Sonntag, 22. November 2015

22. Kapitel



Als wir endlich bei den Stadttoren von Romantika ankamen, war mir vor Erleichterung zum Weinen zu Mute. Die Comedy-Ecke hätte ich nicht mehr eine einzige Minute länger ausgehalten. Zum Glück wurde Blue wieder sein normales, zwar immer noch nerviges, aber nicht mehr ich-würde-dich-am-liebsten-umbringen nerviges, Ich.
Romantika erinnerte mich an ein Set, das ich einmal für Romeo und Julia gesehen hatte. Eine alte Stadt, komplett umgeben von Mauern und der einzige Weg hinein oder hinaus waren die Tore in allen vier Himmelsrichtungen (oder die vielen Geheimgänge, die überall dazwischen in den Mauern versteckt waren. Ich sah ein Pärchen einfach in einer Wand verschwinden und Phoenix erklärte mir wie das vonstatten gegangen war). Die Wachen am nördlichen Tor ließen uns zum Glück passieren, denn Phoenix wusste zwar, dass es Geheimgänge gab, aber leider nicht wo genau.
Unser erster Stopp war natürlich das Hotel. Wir benachrichtigten Mr. Ian Woon, dass wir endlich angekommen waren, luden ein paar der neuen Sachen ab (ich zum Beispiel ließ meinen Guckhupf schlafend in einer Schublade zurück) und machten uns dann auf Erkundungstour, in der Hoffnung irgendjemanden zu finden, der uns den Aufenthaltsort der Einziege mitteilen konnte.
Die Stadt war größer als sie von außen ausgesehen hatte. Trotz der Tatsache, dass die Stadt wie eine Burg angelegt war, gab es überall Parks, weil man anscheinend meinte den Platz nicht für Häuser zu brauchen. Als Ziege würde zumindest ich eher zu einer Grünanlage gehen – als ich mich mit einer Ziege verglichen hatte, war das natürlich perfekte Munition für Blue gewesen – also suchten wir alle verschiedene Parks ab.
Ich stand jetzt vor einem Schild, das verkündete: Hier geht es zur Beziehungswiese!
„Das hört sich nach einem spannenden Ort an“, meinte Hannes, der es sich wieder einmal auf meiner Schulter bequem gemacht hatte,
„Ehrlich gesagt habe ich Angst, dass wir in lauter nichtsahnende Pärchen reinlaufen werden…“
„Ach papperlapapp. Das wird schon.“
Also nahm ich meinen Mut zusammen und sagte mir, wenn ich ein Vampirschaf, Werrölfe, den Absturz eines Teppichs und Blue in der Comedy-Gegend ertragen konnte, würden mir ein paar sich küssende Leute auch nichts ausmachen.
"Guck mal, die Plume plüht!", rief Hannes sobald wir das erste Stück Rasen betraten.
„Plume? Heißt das Ding echt so?“
Anscheinend. Es sah sogar aus wie eine Plume. So rosa wie Zuckerwatte und genauso zerbrechlich. Die Plume schien aus hauchfeinen Spinnweben zu bestehen, was mir die Frage aufdrängte zu was sie überhaupt gut sein sollte.
„Die wächst bestimmt nur hier, damit irgendein Kerl sie für seine Freundin pflücken kann und sagen kann Schau mal, die habe ich nur für dich gepflückt“, meinte Hannes
Die Theorie konnte ich unterstützen.
Ansonsten sah der Park ganz nett aus. Überall war grüne Wiese, ein paar Bäume standen in einer Gruppe zusammen und es gab einen flachen See, auf dem sich einige Falmingos in leuchtend rosa tummelten. In was genau sie sich von Flamingos unterschieden, wusste ich erst, als einer von ihnen anfing „O sole mio“ zu singen und danach ein anderer „Kiss the girl“ anstimmte. Anscheinend waren die Teil des Ambientes.
Einige seltsame Leute waren auch unterwegs, zum Beispiel ein Mann, der ein fröhliches Lieb pfiff. Was ein Lieb genau war, wusste ich nicht, aber zu irgendwas war es bestimmt gut. Auch seltsam waren zwei Frauen. Sie trugen jeweils einen geflochtenen Korb und hatten Spitzentäubchen auf dem Kopf, die ein paarmal mit ihren Flügeln flatterten, sich aber sonst ruhig verhielten. Was passierte, wenn die anfingen ihren Taubenschiss loszulassen?
Ich schlenderte den ganzen Tag über die Beziehungswiese und ähnliche Stellen in Romantika. Einmal trat tatsächlich ein, was ich befürchtet hatte. Ich überraschte ein Paar in einem kleinen Waldstück bei ihrem Leibesabenteuer. Die Frau war gerade dabei gewesen ihrem Partner den Reizverschluss der Hose zu öffnen.
„Ich glaube Reizverschluss trifft die Sache…“, murmelte Hannes, der genervt in die Lust sah, während ich mich hastig entschuldigte und mit hochrotem Kopf den Rückzug antrat.
Ansonsten war das seltsamste, was ich fand, das Dornräschen. Als solches zumindest bezeichnete ein Schild mit einer Erklärung die mit Rasen überzogene Skulptur von Dornröschen, die ich in einem anderen Park fand. „Dornräschen – eine wirkliche Romantikerin.“ Weit verstörender war ein Flyer, den ich am Boden fand, denn er warb für das Theaterstück „Rammelstielchen“, eine neumodische Interpretation von Rumpelstilzchen, die gerade in einem Theater in der Nähe uraufgeführt wurde. Die Alterfreigabe ab 18 ließ vermuten, dass es genau das war, wofür ich es hielt.
Abends trafen wir uns im Hotel wieder, alle ähnlich erfolglos, was das Finden von Einziege anging, aber unterschiedlich erfolgreich, was das Knüpfen von Freundschaften anging.
Phoenix hatte sich ein Buch gekauft, das „In allen Lesbenlagen“ hieß und von einer Bestellerautorin war – einer Autorin, die Geschichten auf Bestellung schrieb. Meine Oma wollte es sich ausleihen sobald Phoenix es fertig gelesen hatte. Sie hatte wohl zuerst ein Buch namens „Die Schwulung in Romantika – erste Erkenntnisse“ kaufen wollen, hatte jedoch gemeint an dem Ding würde sie sich einen Bruch heben. Blue prahlte damit, dass er gleich von mehreren Mädchen die Nummern zugesteckt bekommen hatte und heute Abend auf eine Party eingeladen war – auf die er nur zugesagt hatte zu gehen, wenn er alle seine Freunde mitbringen dürfte.
Es war ausgerechnet meine Oma, die mich überzeugte mitzukommen. Sie meinten Hannes, Blue und ich sollten gehen, damit „die jungen Leute mal ihren Spaß haben“. Ob sich meine Definition von Spaß mit der von Blue deckte, hatte allerdings niemand gefragt. Und so fand ich mich, ähnlich wie bei unserem ersten Stopp in der Drachenschenke, plötzlich und unerwarteterweise auf einer riesigen Feier wieder. 
Sobald wir angekommen waren, war Blue in einer Traube Menschen verschwunden und hatte Hannes und mich in einer Sofaecke zurückgelassen.
Hannes schien ähnlich zögerlich an die ganze Sache heranzugehen wie ich. Bei ihm hatte das vermutlich damit zu tun, dass er ein Froschprinz war. Normalerweise schämte er sich dafür, doch in Romantika hatte sich ein anderes Problem ergeben. Wirklich jede Person, die er traf, schien ihr Glück damit versuchen zu wollen ihn zurückzuküssen. Da würde ja jeder verrückt werden! Wenn mich dauernd Fremde küssen wollen würden, würde ich definitiv das Weite suchen, oder mich, wie Hannes es vorzog, in der Robbentasche einer Freundin verstecken.
Während Blue mit irgendeinem Kerl ein Computerspiel spielte und die Mehrheit der Leute am Tanzen war, hockten Hannes und ich mit einer Tüte Chips in einer Ecke und schauten dem Treiben um uns herum zu. An der Decke drehte sich ein Vibrator, was mich am Anfang ziemlich verunsichert hatte. Aber was sollte man von der Romantik- und Erotikgegend schon erwarten?
Ich war noch nie die Person gewesen, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen musste. Lieber stand ich ein wenig abseits und sah denen zu, die sich im Mitteklpunkt befanden, ein Teil der Gruppe, aber nicht der Punkt, um den sich alles drehte. War man dieser Punkt, fand ich, büßte man oft einen großen Teil seiner Freiheit ein. Hannes und ich konnten zum Beispiel gehen, ohne, dass uns jemand groß aufhalten würde. Wenn Blue sich auch nur ein paar Minuten auf eine Toilette zurückzog, rannten schon Leute herum und suchten ihn.
Größtenteils jedenfalls dachte ich das tatsächlich. Ein anderer Teil von mir wollte es zumindest mal probiert haben im Zentrum zu stehen. Ein wenig hatte ich davon schon mitbekommen als wir die Plotbunnyinvasion gestoppt hatten und alle uns bei jeder Party umringt hatten, sodass uns kaum noch Raum zum Atmen geblieben war. Das musste ich nicht wieder haben. Aber das hier war anders. Das hier waren Leute in meinem Alter, zum Großen Teil jedenfalls.
Die Haustürklingel unterbrach meinen Gedankengang. Da niemand sonst sich in Bewegung zu setzen schien, machte ich die Tür auf und bekam eine Pizza Tonne in die Hand gedrückt. Anscheinend war schon bezahlt worden, denn der Pizzabote drehte sich einfach um und verschwand. Geld hatte ich zwar welches, aber die hatten hier eine seltsame Wärung: Eros. Die Münzen waren kupfern und hatten kleine Amorfiguren auf eine Seite gestanzt. Ich blieb mit der Tonne in der Haustür stehen, die ich mit meinem Fuß hinter mir zustieß und dann versuchte das gigantische, blaue Ding irgendwie auf den Wohnzimmertisch zu bugsieren. Wie der Pizzabote es geschafft hatte das Teil zu tragen, wusste ich nicht.
Hier war ein anderer Vorteil davon abseits zu sein. Man bekam mit wann die Pizza geliefert wurde und konnte sich seine Lieblingspizza aussuchen.
„Eine Tonne, in der frische Pizzen geliefert werden. Das halte ich für eine gute Idee, wenn man eine Party schmeißt und Pizza will“, stellte ich fest und biss von meinem Stück ab.
Hannes hatte sich ein kleines Stückchen Pizza genommen. Viel menschliches Essen vertrug er nicht, aber manchmal konnte er bei seinen Lieblingssachen nicht widerstehen. Bei Schokolade, zum Beispiel, oder bei Pizza.Ansonsten blieb er bei seinen Fliegen.
Die anderen bemerkten schnell, dass das Essen geliefert worden war (vermutlich vor allem, weil ich die Tonne schön im Sichtfeld der Computerspieler platziert hatte, von denen einer Blue hieß und immer hungrig war) und machten sich über die Pizza her.
„Och man, ich habe keine Pepperonipizza mehr bekommen“, beschwerte sich Blue.
„Tja, dann hättest du eben nicht die ganze Zeit nur Computer spielen dürfen, sondern hättest aufpassen müssen, wann es an der Tür klingelt“, sagte ich und holte mir ein weiteres Stück Pepperonipizza aus meinem Pizzakarton.
Blues Augen folgten ihm hungrig und ich erbarmte mich und vermachte ihm die letzten zwei Stücke in meinem Karton.
„Macht doch ein bisschen mehr mit“, schlug Blue vor. „Hier gibt es viel Zeug, was man tun kann.“
„Sich ins Koma saufen zum Beispiel. Keine gute Idee“, erinnerte ich ihn.
"So viel ist es auch wieder nicht“, versuchte Blue sich zu verteidigen.
„Nur weil du dich so unsauffällig, wie es dir mäglich ist, verhälst, heißt das nicht, dass du nicht dicht bist." 
Im mäglich steckten schon die Magenschmerzen, die er am nächste Morgen haben würde. Ganze zu schweigen von den Kopfschmerzen, die ähnlich schlimm werden würden. Vor allem, seit er auf Gin umgestiegen war. Gin das schon wieder los? 
„Erinner dich an die Sekunade! Und an die Feier in der Drachenschenke! Nein, besser, erinner dich an den Morgen danach!“
Das ließ ihn tatsächlich innehalten. Seufzend schaute er auf die Falsche, stellte sie dann aber wieder auf dem Tisch ab. 
"Du hast ja Recht. Und wir müssen morgen weiter nach der Einziege suchen. Immerhin sind wir nicht zum Spaß hier, sondern wollen unsere Geschichten retten. Und ich will meine Geschichten auch retten, wirklich. Ich kann mir einfach nicht vorstellen wie es wäre, wenn ich sie alle nochmal schreiben müsste – oder ich mich nicht mehr richtig erinnere und es einfach nicht auf die Reihe bekommen.“
„Warum betrinkst du dich dann so gerne?“, fragte Hannes aus meiner Tasche. „Warum kannst du dich nicht einfach auf die Aufgabe konzentrieren?“
„Weil ich gleichzeitig noch ein Leben haben will, vielleicht?“, meinte Blue.
„Leben kann man auch ohne sich komplett abzuschießen“, grummelte ich und nahm einen tiefen Schluck Gin aus der Flasche. Die beiden Jungs sahen mich an als wäre mir gerade ein zweiter Kopf gewachsen. „Was? Dass ich mich nicht betrinke, heißt nicht, dass ich nicht trinke. Ich glaube ihr verwechselt da was…“
Auf Blues Gesicht breitete sich ein kleines Lächeln aus. „Dann passt du auf, dass ich nicht zu viel trinke, und ich passe auf, dass du zumindest soviel trinkst, dass du nicht mehr so schrecklich verkrampft bist.“
„Ich habe gerade wahrscheinlich mehrere Jahrzehnte meines Lebens verloren“, erinnerte ich ihn. „Natürlich bin ich verkrampft.“
„Gerade weil du weniger Zeit hast, muss du dafür sorgen, dass die Tage zählen, die du hast.“
Wenn er das so formulierte, hörte es sich nicht mehr ganz so bekloppt an. Nur noch leicht bekloppt.

4 Kommentare:

  1. "Rammelstielchen" klingt irgendwie wie etwas für's Porno-Bingo...

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    1. Will ich wissen was Porno-Bingo ist...?

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    2. Ach, das ist lustig... du gehst mit deinen Kumpels und Kumpelinnen in die Videothek und da in die 18-Abteilung. Dann ganz unten ins Regal bzw. in die Ecke mit den ganz schlechten Pornos (so das Niveau, was man auch an Fernfahrer-Raststätten finden würde). Die Teilnehmer müssen der Reihe nach Titel vorlesen, und wer lacht, scheidet aus. Wer zuletzt einen Lachflash kriegt, hat gewonnen.

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  2. Oho... Blues Weisheit des Tages ist ja mal echt nicht schlecht.


    Der letzte Fehler klingt schon wieder nicht unbedingt nach einem Verschreiber...das ich einmal für Romeo und Julia gsehen hatte/Wie benachrichtigten Mr. Ian Woon/in der Hoffnung irgendjemanden zu finden, der uns den Aufenthaltesort der Einziege mitteilen konnte

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