Freitag, 20. November 2015

20. Kapitel



Der Aufprall raubte mir den Atem. Das kalte Wasser war wie ein Elektroschock für mein Herz. Es war Wasser in meiner Nase, Wasser in meinen Augen, Wasser in meinen Ohren, über mir, unter mir... Wo eben noch so wenig Platz gewesen war, war jetzt unendliche Leere, die sich zu allen Seiten erstreckte und wo eben Lärm und Chaos gewesen waren, war jetzt ewige Ruhe.
Es war so kalt, so kalt, so kalt. Es war als wäre ich noch einmal eingefroren. Im Eis. In der Zeit. So kalt.
Das einzig Warme war die Feder um meinen Hals. Die Lebenskraft, die ich schwinden fühlte, wurde nicht vom Wasser gezogen, sondern von der Feder. Sie wurde nicht vom Tod gezogen, der versuchte mich zu verschlingen, sondern vom Leben das versuchte mich zurückzubringen.
Mein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche und ich schnappte nach Luft. Der erste Schwall Luft brauchte ein wenig Wasser mit sich und hustend versuchten meine Lungen es loszuwerden. Der nächste Atemzug kam rasselnd, aber frei. Mit jedem wurde es einfacher. Meine Arme bewegten sich wie automatisch und hielten mich über Wasser. Um mich herum hörte ich noch mehr Plantschen sowie unterdrückte Flüche und ein klägliches „Mäh!“.
Wo eben noch unendliche Tiefe gewesen war, fanden meine Füße auf einmal Grund. Ich hörte auf zu strampeln und sackte einige Zentimeter tief im Morast ein. Das Wasser ging mir bis zur Brust, als ich mich aufrichtete. Das Platschen hatte ein Ende und stattdessen konnte ich meine Augen öffnen und fand mich mitten in einem Dorfteich wieder.
Direkt neben mir hockte Blue im Wasser. Das Wasser ging ihm bis zum Hals  und er hatte den erstauntesten Gesichtsausdruck, den ich jemals gesehen hatte. Direkt dahinter schwamm der Hut meiner Oma auf dem Wasser und ihre Hand schwamm hinterher, bekam ihn zu greifen und begann dann zurückzuschwimmen zu der Frau, die triefend ein paar Meter weiter weg stand und ihre Arme nach ihrem Lieblingsgegenstand ausstreckte. Sie sah sich um, entdeckte mich und  tiefe Erleichterung breitete sich auf ihren Zügen aus. Direkt neben ihr trieb ein weißes Wollknäuel, das von einer weiteren Figur über Wasser gehalten wurde. Phoenix sah etwas angesengt aus, doch auch sie schenkte mir ein müdes Lächeln. Immer im Kreis um sie herum schwamm ein Frosch, der erleichtert quakte und von einem Überlebenden zum anderen tauchte. Noch ein Stück weiter hinten fischte ein Mann eine triefende, bunte Flitzmütze aus dem Wasser und versuchte dann den Teppich zu bergen, der anscheinend irgendwo auf dem nicht allzu tiefen Grund des Dorfteiches lag.
„Was zum Teufel ist gerade passiert?“, fluchte Blue, der wie immer als erster seine Sprache wiedergefunden hatte. "Vor einer Sekunde habe ich noch das Gefühl in einem unendlich tiefen Ozean gelandet zu sein und dann mache ich die Augen auf und stehe in einem Tümpel!“
„Dorfteich“, korrigierte ich ihn und deutete auf die Häuser um uns herum. Ein weiterer Hinweis auf einen Dorfteich war der Schwarm aufgescheuchter Enten, die sich dicht gedrängt unter einem Busch am anderen Ende des Gewässers gesammelt hatten, als wären sie davon überrascht worden, dass eine ganze Gruppe Leute auf einmal vom Himmel in ihre Heimat gefallen war. Um ehrlich zu sein, mich hätte das vermutlich auch überrascht, würde ich ihren Entenfüßen stecken.
„Ich hatte gedacht ich würde ertrinken!“, bestätigte meine Oma und setzte sich den nassen Samthut auf den Kopf. Ihre Hand krabbelte ihren Arm hinauf, um sich auf ihre Schulter zu setzen, während die Besitzerin ihren Regenschirm aus dem Wasser fischte, der neben ihr trieb.
„Es war definitiv ein tiefes Gewässer“, bestätigte Phoenix und schaute verwirrt auf ihre Hüfte, wo das Wasser endete.
„Ich glaube das war ich“, gab ich zu.
„Wie, das warst du.“ Blue starrte mich entgeistert an.
„Als sich der Teppich gedreht hat, habe ich einen Flecken Wasser unter uns gesehen. Ich erinnere mich noch daran wie ich gedacht habe bitte lass es tief genug sein. Und das nächste, woran ich mich erinnere, ist das Gefühl im Meer zu versinken und die Phoenixfeder um meinen Hals, so heiß wie ein Stück Kohle. Ich glaube ich habe das Wasser tief genug gemacht, um uns aufzufangen und dann habe ich uns wieder an die Oberfläche gezogen.“
Ich erinnerte mich auch an den Sog, der von der Feder ausgegangen war. Ich hatte gefühlt wie mich meine Lebenskraft verließ, so viel davon, dass ich gedacht hatte ich müsste sterben. So viel, dass es sich angefühlt hatte als würde ich bereits sterben.
„Aber… wieviel Lebenskraft hat das gekostet, Mia?“
Phoenix‘ Stimme zitterte. Sie hatte die Feder vor mir gehabt. Sie hatte eine grobe Vorstellung davon wieviel ich gerade verloren haben musste. Leider hatte ich das auch.
„I-ich weiß nicht…“
„Wieviel?!“
Ich schluckte und versuchte einzuschätzen wieviel es gewesen sein könnte. Darüber wollte ich nicht nachdenken. Ich war schon früher mit der Feder leichtsinnig umgegangen, zum Beispiel im Rofl-Copter, als ich den Fallschirm entheddert hatte, der sich in eine der Rotorenblätter verfangen hatte. Das waren vielleicht ein paar Monate gewesen. Aber das hier…
„Jahre?“, antwortete ich schwach und hörte meine Oma entsetzt nach Luft schnappen. „Jahrzehnte?“
Phoenix hatte die Augen geschlossen und ihre Finger zuckten einer nach dem anderen, als würde sie bis zehn zählen, um sich zu beruhigen. Oder als würde sie die Jahre zählen, die mir gerade abhanden gekommen waren. Wann würde ich sterben? Mit 30 vielleicht? 40? Viel mehr als das hatte ich glaube ich nicht mehr. Allerdings…
„Es macht nichts“, entschied ich.
„Wie kann es dir egal sein?!“, schrie Blue mich an. „Wie…?!“
„Weil wir sonst alle tot wären. Ich auch. Ihr auch. Das war eine reine Instinktreaktion. Ich hätte niemanden retten können, oder nur mich, oder nur dich, aber ich habe alle gerettet. Und das kann ich einfach nicht bereuen.“
Vielleicht würde ich es später bereuen, aber jetzt, genau in diesem Moment war ich einfach nur froh, dass wir am Leben waren.
„Wir werden später darüber reden“, versprach Phoenix.
„Du siehst angekokelt aus“, konterte ich.
„Zombies sind nicht feuerfest. Ich hatte Glück, dass Freundschaf auf mir gelandet ist und mich vor dem Großteil des Geschosses beschützt hat.“
Tatsächlich hatte ich bisher nur die eine Seite des schwimmenden, weißen Wollknäuels gesehen. Die andere Seite war weniger weiß, als mehr grau und schwarz.
„Au!“, fluchte Blue erneut.
„Hast du dich beim Fall verletzt?“ Automatisch schickte ich einen Schwall Energie vor, um zu sehen, ob ich etwas tun konnte, bis ich mich daran erinnerte, das ich das in Zukunft wohl besser lassen sollte.
„Nein, irgendetwas hat mich gestochen. Hier sind so scheiß Mücken. Au!“
Im selben Moment spürte auch ich wie mich etwas in den Nacken stach. Ich schlug danach und als ich meine Hand wegzog, lag dort ein gigantisches Stechviech.
„Das sind Steckmücken! Die machen Insektensticke!“, erklärte Phoenix, die als einzige nicht belagert wurde. Das war wohl ein Zombie-Ding.
„Diese Biester sind mega nervig!“, beschwerte sich Blue.
„Dann raus aus dem Teich!“ Phoenix war bereits auf dem Weg und zog Freundschaf mit sich. Anscheinend war sie durch ihren Tod stärker geworden. Ein Schaf, dessen Wolle sich mit Wasser vollgesogen hatte, war nicht gerade leicht, wie wir alle aus Erfahrung wussten.
Die Sticke, die wir davongetragen hatten, sahen tatsächlich aus als hätte uns jemand bestickt. Kreuze in verschiedenen Farben zogen sich an Blues Hals hinauf, an Omas, an meinem und an dem vom Fakir Heinrich. Nur Phoenix, Freundschaf und Hannes schienen davongekommen zu sein. Dafür hing in Freundschafs Fell irgendein komisches Zeug.
„Unser ganzes Gepäck ist irgendwo da drin“, seufzte Blue. „Und das Essen, das Roberot uns mitgegeben hat.“
„Zumindest habe ich die Gedankenspinne“, freute sich meine Oma. Super. Genau das Ding, das ich auf jeden Fall gerettet haben wollte. „Und den Brief von Mr. Ian Woon.“ Na immerhin etwas, das uns nützlich sein könnte.
„Mäh“, machte Freundschaf kleinlaut und begann am Gras zu knabbern, das neben dem Teich wuchs. Es sah aus wie eine seltsame Variante von Cruella Deville. Eine Seite war weiß, die andere vollkommen angekokelt.
Ich versuche das seltsame Zeug aus seinem Fell zu bekommen. Es war schleimig und glitschig und einfach nur eklig. „Iiih, was ist das für ein Zeug?“
„Das ist Englaich. Die eingewanderten englischen Frösche produzieren den“, erklärte meine Oma. „Aus denen schlüpfen irgendwann Kraulquappen, die einen einzigartigen Schwimmstil besitzen.“
„Igitt…“ Trotzdem hatte das Zeug nichts in Freundschafs Fell zu suchen und hatte gefälligst zu verschwinden. Selbst wenn ich es dafür anfassen musste. Zu meiner Erlaichterung ging es ganz gut raus und ich konnte es zurück in den See werfen.
Einige Leute standen mittlerweile um den Teich herum. Sie hatten zugesehen wie wir uns durch den Uferschlamm gekämpft hatte und nun frierend in der Kälte standen.
„Hey, ihr! Wollt ihr mit zu mir kommen und euch aufwärmen?“, fragte eine Stimme aus der Menge. Ein rundlicher Mann mit roten Bausbacken und Armen wie ein Wrestler trat vor. „Ihr seht aus als könntet ihr Hilfe gebrauchen.“
„Danke!“ Ich fiel ihm vor Dankbarkeit fast um den Hals. „Wie könnten wirklich Hilfe gebrauchen.
Zur Freude von Blue stellte sich heraus, dass unser Retter in der Not ein Bäcker war. Nachdem er sich versichert hatte, dass der Brief von Mr. Ian Woon echt war, erlaubte er uns, uns aus seinem Laden auszusuchen was auch immer wir wollten. Blue entschied sich lieber dazu mit ihm gemeinsame Sacher zu machen, denn anscheinend hatte er darauf besonders Hunger. Während die beiden also gemeinsam eine Sachertorte buken, futterten wir anderen uns durch eine Auswahl von Brötchen und Kuchen, während wie uns vor dem angeheizten Ofen räkelten.
„Was genau ist das für ein komischer Turm gewesen?“, fragte ich Heinrich.
„Das war eine Turmfalle. Fiese Dinge. Sehr fiese Dinger. Sie wurden im letzten großen Krieg des NaNo-Landes verwendet. Die sind sowas ähnliches wie Landminen in eurer Welt. Man weiß nie genau wo sie auftauchen – und, noch schlimmer, sie ändern nach jedem Ausbruch ihren Standort.“
„Also ist das Ding immer noch da draußen.“ Ich griff nach meiner Feder, die wieder warm war. Dieses Mal allerdings nur, weil ich so nah an einem Ofen hockte.
„Ja. Die Chance in einen von denen zu fliegen sind in etwa so hoch wie von einem Blitz getroffen zu werden. Aber es passiert. Besonders wenn so viele fliegende Teppiche unterwegs sind.“ Er wrang seine Mütze aus und hängte sie zum Trocknen über sein Knie.
„Wie kommen wir von hier weg?“, wollte ich wissen.
Er zuckte mit den Schultern. „Ich werde einen neuen Teppich anfordern müssen, aber es dauert noch eine Weile, bis der ankommt. Zwei Tage mindestens, würde ich sagen, weil es einen so großen Andrang gibt.“
Das musste ich erstmal sacken lassen. Zwei Tage konnten wir unmöglich vergeuden. Wir mussten vorher nach Romantika kommen und anfangen nach der Einziege zu suchen. Die Wachmänner konnten jeden Moment anfangen vollständig zu streiken und dann würde der Große Rote Knopf des Verderbens ungeschützt daliegen.
Ich stand auf und ließ den trocknenden Fakir vor dem Ofen zurück. Ein bisschen Wärme würde mir zwar auch gut tun, aber stattdessen folgte ich Blues Stimme und fand ihn und den Bäcker vertieft in eine Unterhaltung über Gebäck, die ich unsanft unterbrechen musste.
„Entschuldigung, aber wir müssen möglichst bald nach Romantika. Gibt es irgendeinen Weg dorthin? Innerhalb der nächsten zwei Tage, um genau zu sein?“
Der Bäcker sah nachdenklich in den Teig, den er gerade geknetet hatte. „Möglicherwiese könnte euch jemand mit einem Pferdekarren fahren…“, überlegte er laut. „Nein, doch nicht. Morgen ist hier ein großes Dorffest und niemand kann die Karren entbehren. Möglicherwalde könntet ihr den Tunnel benutzen und laufen. Ja! Das wäre eine Möglichkeit!“
„Tunnel?“ Blue hörte sich so skeptisch an wie ich mich fühlte.
"Möglicherwiese?" Das war eher das, worüber ich erstaunt war. Vielleicht war das ein lokaler Dialekt.
„Ja. Der gehört Laurence, dem Schweinebauern. Ich könnte ihn morgen auf dem Fest fragen, ob er euch den Tunnel in die Comedy-Gegend aufschließt. Von der Comedy-Gegend aus ist es nur noch ein kleines Stück bis nach Romantika und sobald ihr erstmal da seid, wird eure Mr. Ian Woon Karte euch über die Runden bringen.“
Phoenix war hinter uns in der Tür aufgetaucht und der Bäcker warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Als er gesehen hatte, dass ein Gruppenmitglied ein Zombie war, war es mir zuerst vorgekommen als hätte er bereut uns jemals seine Hilfe angeboten zu haben. Er schien immer noch nicht ganz einverstanden mit dem Lauf der Dinge sein, aber er tolerierte sie bisher, was für den Moment genug war. Phoenix trocknete sich wie alle anderen am Feuer, auch wenn sie sich vielleicht ein wenig weiter von den Flammen entfernt hielt.
„Dann kommt ihr morgen mit Sack und Pack auf das Dorffest mit und ich regele das, ja?“
Ich nickte, was mir ein Lächeln von ihm einbrachte. Dann wandte er sich wieder Blue und der Unterhaltung über Gebäck zu, während die beiden gleichteigig an ihrem Teig kneteten.
Diese Nacht verbrachten wir alle aneinander gekuschelt vor dem Ofen. Der Bäcker hatte uns eine Wohldecke gegeben, unter der es uns tatsächlich wohlig warm wurde. Außerdem hatte er den Ofen angeheizt damit unsere Kleidung trocknen konnte. Er hatte zwar angeboten, dass wir in verschiedenen Zimmern schlafen konnten, aber wir hatten uns geweigert. Meine Vermutung dazu war, dass niemand von uns alleine sein wollte, allein mit seinen Albträumen.

1 Kommentar:

  1. Ah, das war besagte Stelle... guter Einfall, wenn auch ziemlich blöd für Mia, aber Recht hat sie ja, es wären schließlich alle gestorben.

    Zwei kleine Fehler... So viel, dass es sich angefühtl hatte als würde ich bereits sterben./„Und das Essen, das Roberot uns mitgegeben hab.“

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