Mittwoch, 18. November 2015

18. Kapitel



„Hier.“
Ich hielt Archiblad meine Beschreibung der Ereignisse im Könlingsschloss unter die Nase. Seine Augen huschten hinter den dicken Brillengläsern hin und her.
„Das hört sich eher nach einem Romanausschnitt an“, meinte er pikiert.
„Das ist genau so wie ich es erlebt habe. So schreibe ich nunmal.“ Wenn es ihm nicht passte, sollte er doch einen der anderen beiden fragen. Blue käme eher in Frage als Hannes, denn immerhin konnte der keinen Stift halten.
„Kann ich jetzt einen Abdruck von Freundschafs Gebiss nehmen?“, fragte Archiblad, nachdem er meine Zettel sorgfältig abgeheftet hatte.
„Mäh!“, machte Freundschaf.
„Perfekt.“ Er kramte in einer Schublade herum und holte seltsame Folie heraus. Auf diese ließ er Freundschaf beißen und legte sie dann sorgfältig wieder zurück. „Sonst noch was? Wenn nicht, ich will weiter an meiner Arbeit schreiben.“
„Äh, danke. Das war alles.“ Ich überlegte, ob ich Archiblad fragen sollte, ob er nicht kurz mit rauskommen wollte, raus aus der Uni und der Biblithek. Allerdings wäre das vor allem gerade jetzt, wo er neues Material zum Untersuchen hatte, absolut sinnlos.
„Vielleicht sieht man sich irgendwann mal“.
„Oder auch nicht. Tschüss.“ Er schaute nicht einmal zur Tür, so vertieft war er schon wieder in seine Studien.
Zum Glück hatten die anderen einen besseren Orientierungssinn als ich und schafften es uns ohne größere Umwege zurück zum Lift zu schleusen. Direkt daneben war ein Treppenhaus, das wird für den Abstieg benutzten. Lieber das, als wieder mit Stephs Höllenfahrstuhl zu fahren.
Die untere Etage sah immer noch heller aus als die obere, obwohl es mittlerweile draußen dämmrig geworden war.
„Hey, ihr! Was haltet ihr von eingeschweißten Pessimisten?“, fragte eine Studentin, die am Eingang Flyer verteilte.
„Was sind das für Typen?“ Ich nahm einen Flyer entgegen und versuchte daraus zu lesen was zum Teufel sie meinen könnte.
„Sie wollen die Uni zerstören, weil sie alles nur schlecht sehen. Das einzige was gegen sie hilft ist Rivalitöt, aber die ist ziemlich teuer. Würdet ihr eine kleine Spende machen?“ Sie klapperte mit einer Dose.
Oma schaffte es sie loszuwerden ohne sie zu beleidigen, was weder Blue noch mir geglückt war. Ich wusste nicht mal was Rivalitöt war – eine Waffe, um Rivalen zu töten? – und würde bestimmt kein Geld dafür ausgeben. Freundschafs niedlichstes Gesicht und kläglichstes „Mäh!“ sorgten außerdem dafür, dass sie ihre Sammelaktion für eine kleine Weile vergaß und uns damit in Ruhe ließ.
Blue zückte sein Handy und rief den Fakir, der direkt auf dem Universitötshof landete und uns einsammelte.
 „Langsam müsstest du dich doch ans Fliegen gewöhnt haben“, meinte ich, als Blue wieder einmal aussah wie ein Häufchen Elend.
„Ach komm mir nicht mit Ration und Verstand. Du mit deiner Abneigung gegen den gesunden Menschenversand kannst dich überhaupt nicht über mich lustig machen!“, fauchte er.
Ration? Es musste ihm dreckiger gehen, als ich gedacht hatte. „Aber du darfst dich über mich lustig machen, oder wie? Das fangen wir gar nicht erst an. Ergo mache ich mich so viel über dich lustig wie ich will. Also, dir geht es auf dem fliegenden Teppich immer noch so schlecht?“
„Sonst würde ich nicht vorschlagen Kotztüten zu kaufen, du Duperhirn!“, beschwerte er sich.
Entweder hatte er was mit seltsamen Wörtern, oder… nein, er hatte definitiv ein Problem mit seltsamen Wörtern.
Dafür, dass es von Dämmerung in die Nacht überging, flog der Fakir erstaunlich gut. Er schaffte es uns sicher vor der Drachenschenke landen zu lassen und den Teppich im umfunktionierten Stall zu verstauen. Ein anderer Gast schien ähnlich spät gekommen zu sein wie wir. Zumindest befand er sich halb drinnen und halb draußen.
Die Eingangstüren waren mittlerweile umfunktioniert worden war und man konnte sie nun von innen mit zwei hölzernen Türflügeln schließen, um den Eingang zu schützen. Jetzt waren sie allerdings weit geöffnet und quetschten leise im Wind, denn in der Tür hing ein Mann und schrie aus Leibeskräften. „Bitte! Bitte lasst mich gehen; ich werde auch nie wieder eine Tür aufschießen! Aaaaah!“
„Kommt, nehmen wir den Seiteneingang“, meinte Blue. Ich war mir nicht sicher, aber es sah fast so aus, als wäre er ein bisschen aufgerüttelt durch dieses Ereignis. Bei Blue war das immer schwer zu sagen. Entweder zeigt er zu viele Emotionen, oder gar keine.
Die Seitentür war wesentlich kleiner, aber immerhin wurde hier nicht gerade ein Mann zerquetscht.
„Na, was haltet ihr von meinen neuen Türen?“, fragte der Wirt mit einem unheimlichen Funkeln in den Augen. „Das ist eine Natür. Natürlich lebendig und absolut tödlich – wenn ich es will.“
„Äh, großartige Idee“, versuchte ich es. Er schien überzeugt zu sein und wir ließen uns an einen Tisch sinken.
Neben uns am Nachbartisch drehte sich ein Mann eine neue Ziegeratte. Vermutlich war die gesünder als eine Zigarette, aber irgendwie nichts, was ich je zuvor gesehen hatte. Vielleicht war ja das Rauchen von Trockenfleisch gesünder als das Rauchen von Tabak? Auf jeden Fall sah die Rattenförmige Zigarette aus Trockenfleisch mit Ziegenbart an einem Ende reichlich seltsam aus.
Blue bestellte sich sofort ein Prokrastibier, das, laut ihm zumindest, sehr lecker und sehr effektiv war. Auf so etwas musste man natürlich während des NaNo verzichten. Im Dezember konnte er jetzt so viel prokrastinieren wie er wollte. Solange seine Uni es erlaubte zumindest.
Ich konnte immer noch nicht fassen, dass er Chemie studierte. Das war so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich mir vorgestellt hatte. Ich hätte ihn eher für den Typ gehalten, der in den Tag hineinlebte. Stattdessen musste ich ihn mir nun mit weißem Laborkittel vorstellen, wie er für ein Experiment verschiedenfarbige Flüssigkeiten ineinander kippte. Kein Wunder, dass er am Froschungslabor so interessiert war.
Ich bestellte einfach ein Wasser, während meine Oma sich Blühwein bestellte. Den gab es in rot, organe und gleb. „Da blüht man förmlich auf!“, war Omas einziger Kommentar dazu.
Der Wirt holte extra die Weitengläser aus der Vitrine, um den Wein darin zu servieren. Laut meiner Oma was das ein großes Kompliment, denn aus diesen Gläsern sollte der Blühwein gleich nochmal so gut schmecken. Dazu bestellte sie sich einen Mögkuch, denn laut meiner Oma war es für Kuchen nie zu spät. Ich selbst wollte etwas Herzhafteres und bestellt mir das hähnliche Gericht – ein Hähnchen nämlich.
Blue entschied sich für etwas, das ein wenig exotischer war. Das Special der heutigen Nacht war ein Specktisch, von dem man sich nehmen konnte soviel man wollte, frei nach dem Motto: Kann man das essen, oder darf das weg? Mit Messer und Gabel bewaffnet ging er in den Mampf.
Meine Oma las die Zeitung, während sie an ihrem Mögkuch knabberte. Ich sah lieber Blue dabei zu wie er versuchte einen ganzen Tisch zu essen. Hannes war mit seinen Fliegen schon bekannt und er musste nicht einmal darum bitten; ihm wurde einfach immer eine Schale Fliegen vorgesetzt. Anscheinend waren sie froh, wenn sie einen Grund hatten sie Küche alle Nasen lang mal von dem Fliegzeug zu befreien.
Trotz der heiteren Atmosphäre war irgendetwas nicht richtig. Ich fühlte mich in dem Raum so beobachtet, doch jedes Mal, wenn ich mich umsah, konnte ich die Quelle des Ganzen nicht ausfindig machen. Weder Oma, noch Blue, noch Hannes schienen irgendetwas dergleichen zu fühlen, also schrieb ich es am Anfang als Übermüdung ab. Das war eine logische Erklärung und vollkommen plausibel. Aber ich war damit nicht zufrieden.
Blue hatte mittlerweile mit mehreren anderen Männern den Specktisch soweit dezimiert, dass sie sich einzelne Stücke mit an den Tisch nehmen konnten.
„Boa, ich glaube so voll war ich seit langem nicht mehr“; stöhnte er. „Endlich mal! Die meisten Portionen sind echt ein Witz.“ Er warf einen Blick auf mein Gesicht und sofort wurde er ernst. „Ist was, Mia? Ich kenne den Blick.“
Auch Hannes sah auf. Meine Oma war immer noch vertieft in ihre Zeitung.
„Nein. Ja. Ich weiß nicht. Es ist so ein komisches Gefühl… als würde mich jemand beobachten. Als würde uns jemand beobachten. Aber niemand von euch bemerkt es. Außerdem kann ich nicht sagen, ob es ein gutes, oder schlechtes Gefühl ist, es ist einfach da.“
Statt mich auszulachen, sah auch Blue sich in der Taverne um. So wie er das machte, sah es aus, als würde er jeden Besucher einordnen und die raussuchen, die eventuell für das Gefühl verantwortlich sein könnten.
„Okay, entweder der Typ da hinten in der Ecke, mit der Kapuze, dessen Gesicht man nicht sieht. Oder Die Frau an der Bar, mit dem Rücken zu uns. Oder die Person hinter der Zeitung dort drüben. Das sind die drei, bei denen ich es mir am ehesten vorstellen könnte. Das heißt nicht, dass sie es wirklich sind“, erinnerte er mich. „Aber auf diese Richtungen solltest du besonders achten, wenn du es nochmal fühlst.“
Ich starrte auf die Tischplatte und wartete darauf, dass mir wieder ein Schauer den Rücken hinunter lief. Dieses Mal sah ich nicht sofort auf, sondern wartete ab und flüsterte Blue zu. „Jetzt wieder. Ich glaube es kommt von direkt hinter mir.“
„Das wäre die Frau an der Bar.“ Ich konnte sehen, dass er versuchte sie aus dem Augenwinkel zu beobachten, doch das Gefühl beobachtet zu werden verschwand sobald er den Kopf hob.
So würde das nicht funktionierten. Ich war müde, ich hatte die Nase voll und das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war jemand, der mir das Leben zur Hölle machte. Ich würde aufstehen, hingehen, wem auch immer es war die Meinung sagen, und mich danach wieder setzten und den Rest des Abends genießen.
Meine Oma stieß plötzlich einen Schrei aufs, gerade als ich aufstehen wollte. „Das kann nicht sein!“
„Was ist los, Oma? Hatten wir für heute nicht genug Schreierei von Tischen und seltsamen Nickelbrillentypen?“
„Das hier ist unglaublich. Der Zeitungsartikel ist über jemanden, der als Zombie zurückgebracht wurde. Und er sagt bei den infiziertem Infizierten handelt es sich um die ML bekannt als Phoenixfeder!“ Sie schlug die Zeitung hin und her als könnte das die Schriftzeichen durcheinanderwerfen, die darauf gedruckt waren und einen neuen Namen auswürfeln. „Das kann nicht sein. Oder?“
Das seltsame Gefühl machte auf einmal Sinn. Es machte auch Sinn warum ich die einzige war, die etwas fühlen konnte. Ich war die einzige, die Phoenix‘ Feder bekommen hatte.
Jetzt hielt mich nichts mehr zurück und ich ging auf die Frau zu, die an der Bar saß, den Rücken zu uns. Die Haarfarbe stimmte, aber die Hautfarbe hatte einen ungesunden Unterton. Dann wiederum war die Person ein Zombie, also war das zu erwarten.
„Lange nicht gesehen“, sprach ich die Frau an.
Ihre Schultern versteiften sich und sie begann sich umzudrehen. Wenn ich mich geirrt hatte, würde ich hier und jetzt auf der Stelle vor Scham und Trauer im Boden versinken. Denn schlimmer als die Trauer war die Hoffnung darauf, dass sie es wirklich war, dass sie noch am Leben war. Oder am Unleben. Wie auch immer man das nannte.

1 Kommentar: