Dienstag, 17. November 2015

17. Kapitel



Hier oben sah die Biblithek ein wenig anders aus. Unten hatte alles einen offenen Eindruck gemacht. Es hatte hohe Fenster gegeben, durch die viel Licht in die Innenräume gefallen war, überall war das Licht an gewesen und es hatte in regelmäßigen Abständen nett eingerichtete Lernecken für die Studenten gegeben. Hier oben hatte die Hochschnulbiblithek eher etwas von einem Aktenlager. Unästhetische Metallregale säumten die Wände und statt hübsch eingebundener Bücher, standen öfter Ordner in den Regalen, die irgendwelche Essayausdrucke von Studenten oder Professoren enthalten mussten. Mit dem Unizeug kannte ich mich wie gesagt nicht aus. Das war Blues Domäne.
„Was für eine hässliche Biblithek“, meinte er nur.
Wir tasteten uns vorsichtig durch die Flure. Alles schien wie ausgestorben zu sein. Nachdem ich gesehen hatte wie hübsch es unten war und dann den Vergleich hier hatte, konnte ich verstehen, warum hier niemand arbeiten wollte. Freiwillig zumindest nicht.
„Mäh!“, machte Freundschaf und sein Blöken hallte durch die Flure.
Einen Moment lang war alles still. Dann erklang ein Geräusch, das wie das Umfallen eines Stuhls klang und eine Stimme erschallte.
„War das ein Freundschaf? Ein echtes Freundschaf? In der Biblithek? Nein, nein, ich muss träumen. Ich bin endgültig verrückt geworden, genau wie mir immer alle prophezeit haben…“
Das Gemurmel ging eine Weile weiter, das Kratzen von Stuhlbeinen auf dem halb ausgelatschtem Teppichboden und das Knarzen des Stuhls als sich die Person wieder darauf niederließ.
„Mäh!“, machte Freundschaf erneut.
„Jetzt habe ich es aber wirklich gehört. Und ich bin nicht verrückt!“
„Hallo?“, rief ich in den Flur hinein. „Wir wurden vom Pförtner hochgeschickt. Bis du Archiblad?“
Das Murmeln war wieder unverständlich, kam jedoch näher. Eine große, sehr schlanke Gestalt kam auf uns zugetorkelt, wie eben jemand lief, der den ganzen Tag auf einem Stuhl verbracht hatte ohne sich zu rühren.
„Oh mein Gott, ein Freundschaf! Dass ich das noch erleben darf! Ich hatte gedacht die wären alle verschollen!“
Das automatische Licht klickte und erhellte einen schlaksigen jungen Mann. Jemand musste seinen Körper in großer Eile zusammengesetzt haben, denn alles schien zu lang zu sein und zu viel Spielraum in alle Richtungen zu haben. Beim Laufen sah es so aus als würde er jedes seiner Gelenke ausgekugelt bevor er den nächsten Schritt tun konnte. Eine dicke Hornbrille rundete den Anblick von „absoluter Außenseiter“ ab, was durch den altbackenen Pullover noch verstärkt wurde.
„Hallo, mein liebes Freundschaf, mein Name ist Archiblad. Schön dich kennenzulernen.“
„Mäh!“, machte Freundschaf.
„Ich dachte das Schaf der Einshockeymannschaft wäre der letzte Überlebende seiner Art – und das ist nun wirklich nicht sehr freundlich für ein Freundschaf. Du scheint mir eher der Typ zu sein, nicht wahr?“
„Mäh!“, machte Freundschaf.
„Es freut mich wirklich außerordentlich. Du bist nicht zufällig das Schaf, das den Könling aus seiner Geierform befreit hat? Ich habe erst gerade einen Augenzeugenbericht eines Magiers gefunden – der sich übrigens gleichzeitig über ein Loch in seiner Robe beklagt – aber ich bin mir nicht sicher, ob ich der Quelle trauen kann…“
„Mäh!“, machte Freundschaf.
„Mmh, wenn ich mir deine Zähne so anschaue, dann könnte es passen. Weiß du, ich habe die Bisswunde auf der Robe untersucht und die Zähne…“
„Mäh!“, machte Freundschaf.
„Ja, die Zähne scheinen tatsächlich identisch zu sein. Meinst du es würde dir etwas ausmachen mir einen Abdruck…“
„Mäh!“, machte Freundschaf.
„Entschuldigung?“, fragte ich vorsichtig.
„Ja, ein Abdruck würde so einiges klären. Dann hätte ich das letzte Puzzlestück und könnte endlich meine Arbeit veröffentlichen. Dann würden die Leute mich nicht mehr für einen verrückten…“
„Mäh!“, machte Freundschaf.
„Entschuldigung!“, versuchte ich ihn erneut zu unterbrechen.
„…verrückten, nichtsnutzigen, hochnäsigen… äh, entschuldigung?“ Archiblad, der bisher vor Freundschaf gekniet hatte, sah auf und rieb sich mit einem Zipfel seines Pullovers die Brillengläser. „Und ihr seid?“
„Freundschafs Freunde. Wir versuchen seine Verschwandtschaf zu finden, um den Großen Roten Knopf der Verderbens von ihnen bewachsen zu lassen, da Freundschafe gegen seine Wirkung immun zu sein scheinen und hatten uns gefragt…“
„Immun? Das ist ja außergewöhnlich. Außergewöhnlich. Ich muss unbedingt…“
„…und wir hatten uns gefragt, ob du uns nicht helfen könntest Freundschafs Verwandtschaf zu finden!“, schrie ich beinahe gegen seinen neusten Beginn eines Monologes an.
Oh Gott, war der anstrengend. Und ich hatte gedacht Blue wäre eine Nervensäge. Sowohl Blue, als auch Hannes und meine Oma schienen vor lauter Staunen wortlos geworden zu sein. Ich musste zugeben Archiblad war eine Marke. Aber wir brauchten seine Hilfe, und das möglichst schnell.
„Wir könnten Freundschaf bestimmt bitten im Austausch gegen deine Hilfe ein paar Gebissabdrücke zu hinterlassen. Außerdem waren drei der hier Anwesenen dabei als das mit dem Geier passiert ist, also könnten wir dir vielleicht dabei helfen deine Quelle zu überprüfen.“
„Da war doch dieser eine Magier, dem Freundschaf ein Stück Robe vom Hintern gebissen hat…“, murmelte Blue und seine Augen begannen vor Lachen zu tanzen. „Das war eines der beeindruckendsten Dinge, die Freundschaf je getan hat, wenn du mich fragst.“
„Und meinen Vater vom Geier-Sein zu befreien“, gab Hannes seinen Senf dazu.
„Was was was Vater?“ Archiblad rückte seine Brille zurecht und spähte in die Tasche, die Hannes zu seinem Stammplatz gemacht hatte. „Dann musst du Prinz Johannes sein, Sohn des Könlings.“
„Hannes reicht“, murmelte er. Das musste einer der wenigen Momente sein, wo Hannes tatsächlich erkannt und nicht für einen Frosch gehalten wurde.
„Es ist mir eine Ehre Euch kennenzulernen, könlingiche Hoheit.“ Archiblad machte tatsächlich eine kleine Verbeugung und Blue konnte ein Kichern nicht unterdrücken.
„Freundschafs Verwandtschaf!“, erinnerte ich die Versammlung. „Können wir irgendwo reden? In Ruhe?“
"Mmh, ich habe kein Faible für Männer in Uniforum…", murmelte Archiblad. „Und unten ist es mir zu hell. Und ich hasse die Unifmroen, die einige Studenten anhaben… Die sind genauso zerstückelt wie ihr Name… Ich weiß!“
Ich zuckte zusammen als mir der Kerl ins Ohr schrie und hätte Blue am liebsten eine gescheuert, weil er das Ganze ungeheuer komisch zu finden schien.
„Wie bleiben hier und ich rede mit euch in meinem Büro.“
Na sieh mal einer an. Der Kerl konnte auch halbwegs vernünftige Entscheidungen treffen. Es sah ganz so aus als hätte diese Bücherei, obwohl es sich um eine sehr kleine Stadt- und Hochschnulbiblithek handelte, tatsächlich einige Bücher im Angebot, die uns Antworten geben konnten. Und wenn es keine Bücher gab, hatten wir immer noch Archiblad, der ein wandelndes Lexikon in allen Dingen Freundschaf zu sein schien.
Wir alle folgten dem schlaksigen Mann durch die Korridore. Nach ein paar Biegungen hatte ich bereits die Orientierung verloren und fragte mich wie lange Archiblad hier eingesperrt verbracht hatte, damit er sich so gut zurechtfand.
Sein Büro stellte sich als ein Zimmer heraus, dessen Wände ebenfalls aus Metallregalen bestanden, die er offensichtlich mit relevantem Material gefüllt hatte.
„Der Pförtner hat gesagt ich könnte alle Materialien über Freundschafe hier oben lassen, weil das eh niemanden interessiert“, meinte er. „Und jetzt kommt ihr und fragt nach dem Großen Roten Knopf des Verderbens und ihr braucht mein Wissen, um eine Katastrophe zu verhindern. Ich kann gar nicht darauf warten ihnen das unter die Nase zu reiben.“
„Wem ihnen?“, fragte ich.
„Na ihnen allen! Niemand hat mich ernst genommen.“
Ein seltsamer Ausdruck trat in seine Augen und er tat mir leid. Armer Kerl, Natürlich war er seltsam, aber vielleicht wäre er weniger seltsam, wenn ihn mal jemand aus diesem Zimmer schleifen würde…
„Setzt euch!“, lud er uns ein. „Irgendwo. Wo Platz ist. Oder irgendwo. Wo kein Platz ist. Außer du. Du darfst überall sitzen“, meinte er zu Freundschaft.
„Mäh!“, machte Freundschaf.
Es schien ihn echt zu mögen. Jedenfalls hatte es in seiner Gegenwart öfter Laute von sich gegeben als die ganze Zeit, die ich es schon kannte. Freundschaf war normalerweise recht wortkarg.
Blue fegte ein paar Papiere von einem verstaubten Tisch am anderen Ende des Raumes (es war offensichtlich, dass Archiblad nur auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch hockte, auf dem eine Leselampe brannte). Er setzte sich und ein Schrei erschütterte den Raum. Sofort sprang Blue auf, drehte sich um und bedrohte den Tisch mit seinem Schwert.
„Oh, ich wusste gar nicht, dass das einer von denen ist!“, meinte Archiblad verwundert.
Er ignorierte Blues gezogenes Schwert und drückte leicht auf die Tischplatte. Eine leisere Version des Schreies erklang und er lächelte zufrieden.
„Schreitische“, erklärte er. „Die wurden aus Versehen irgendwann mal bestellt. Aber die haben den Leuten hier natürlich nicht so gut gefallen. Immerhin ist das hier einen Biblithek. Alle bevorzugen Schreibtische; die machen weniger Krach.“
Er drückte noch einmal auf den Tisch, der wieder aufschrie.
„Zur selben Zeit hatten sie für die Teeküche einen Küchentusch bestellt. Der hat jedes Mal einen Tusch gespielt, wenn jemand eine Tasse Tee darauf abgestellt hat. Ihr wisst schon, so ein Orchester aus Kochtopftrommeln und sonstigen zweckentfremdeten Küchengeräten. War nicht besser als die Schreitische. Zusammen hat das allerdings eine nette Mischung gegeben.“
Als er die Hand ausstreckte, um den Tisch noch einmal zum Schreien zu bringen, hielt Blue ihn am Handgelenk zurück, während er mit der anderen Hand das Schwert wieder einsteckte.
„Oh. Tschuldigung. Wo waren wir? Schreitische?“
„Nein, Verwandtschaf“, erinnerte ich ihn. Dieser Kerl würde mir noch den letzten Nerv rauben; der war ja ein absolutes Desaster.
„Oh. Ja. Na klar. Mal sehen.“
Er schob meine Oma unsanft zur Seite, die sich auf ihren Regenschirm stützen musste, um nicht umzufallen und begann in einem der Regale herumzukramen. Er schaute in verschiedene Ordner, schüttelte immer wieder den Kopf und schob sie zurück.
„Oh! Den hier habe ich schon ewig gesucht! Wie ist er denn bei den Daten L478.c.3 gelandet? Ich dachte der müsste eigentlich bei L364.b.7:1 stehen! Wie nur…“
Ich räusperte mich und warf Blue einen bösen Blick zu, woraufhin er sein Lachen in ein Husten verwandelte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass wir mal jemanden finden würden, der dir mehr auf die Nerven geht als Blue…“, murmelte Hannes aus meiner Brusttasche.
„Ach halt die Klappe, oder du darfst die ganzen Treppen gerne selber runterlaufen“, zischte ich ihn an.
„Hast du was gesagt?“ Archiblad, einen Ordner in der Hand, drehte sich um.
„Nein, nein, mach nur weiter.“ Sogar meine Oma musste sich ein Grinsen verkneifen, auch wenn ich ihr ansehen konnte, dass sie auch gerne etwas schneller vorankommen würde.
„Ah! Hier. Ich hab einige Gerüchte gehört, aber die Verwandtschaf von Freundschaf scheint vor einigen Jahren zum großen Teil spurlos verschwunden zu sein. Ausnahmen bilden unter anderem euer Freundschaf, das Maskottchen und ein paar fiese Schafe. Vampirschafe scheinen generell nicht gut gefangen werden zu können, weshalb vermutlich die meisten von ihnen immer noch da draußen sind. Aber die helfen euch nicht weiter, oder? Ihr braucht ja Schafe, die sich nicht gegenseitig zerfleischen.“
„Das wäre von Vorteil, ja“, steuerte meine Oma bei.
„Aha!“, schrie er, fast so laut wie der Schreitisch.
Ich zuckte zusammen und musste mich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass wieder alle auf meine Kosten lachten. Solange wenigstens die Spaß hatten… „Was ist?“
„Ich weiß wie wir das machen. Ich hätte im Angebot, nach etwas zu schlauen und erzähle euch alles, was ich über Freundschafe weiß. Außerdem gewähre ich euch Einblick in die gemeinen Dokumente – solange einer von euch aufschreibt wie der König vom Geier-Sein erlöst wurde, durch Freundschaf hier. Deal?“
„Was sind gemeine Dokumente?“, hakte ich nach.
„Manchmal beißen sie.“ Archiblad rückte seine Brille zurecht und ich bemerkte die Pflaster an seinen Fingern. Vielleicht war seine Arbeit doch gefährlicher als ich gedacht hatte.
„Also, Mia, Deal?“, fragte Blue.
„Wieso ich?“
„Wieso nicht?“
Ich funkelte ihn wütend an, doch schließlich schnappte ich mir einen Zettel und einen Stift und setzte mich mit Absicht auf den Schreitisch. Der ließ einen so markerschütternden Schrei erklingen, dass Blue herumfuhr und mir beinahe sein Schwert durch die Brust stieß.
„Vorsicht, das Ding ist spitz.“ Das mit dem Anfunkeln klappte wirklich immer besser. Dieses Mal war er derjenige, der wegschauen musste.
Während Archiblad den anderen beschrieb was er wusste, saß ich vor einem Blatt Papier und überlegte wie ein Zeugenbericht wohl aussehen sollte. Dann entschied ich mich so zu schreiben wie ich es am besten konnte. So, wie ich geschrieben hatte, als ich Fluffles‘ Geschichte verfasst hatte.

1 Kommentar:

  1. Ach, ich mag das Zusammenspiel von Blue und Mia... auch wenn es dich wahrscheinlich auf Dauer in den Wahnsinn getrieben hat.

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