Mittwoch, 11. November 2015

11. Kapitel



Vor uns war eine kleine Hütte aufgetaucht. Sie sah so aus wie ich mir immer das Hexenhäuschen in Hänsel und Gretel vorgestellt hatte, nur ohne die Süßigkeiten. Das machte das Haus nicht gerade vertrauenswürdig, doch Roberot ging mitten durch den Holzbogen, in den die Tür eingefasst war – er hatte Recht, der sah wirklich wie eine kleinere Version des Eingangsbogens von vorhin aus – und Freundschaf folgte ihm ohne zu zögern. Dann vertraute ich mal seinem Urteil. Blue hatte immer noch die Hand am Schwertknauf, doch auch er kam mit in die Hütte.
Das Innere war eine Überraschung. Das Häuschen sah von außen so aus als würde es höchstens einen Raum beinhalten. Sobald man die Türschwelle überquerte, schien es jedoch zehnmal so groß zu sein. Wir standen in einerm kleinen Flur mit Kleiderhaken an der Wand und Holzdielen als Fußboden. Rechts ging es in eine Küche, geradeaus schien ein Badezimmer zu sein und links gab es ein Wohnzimmer. An der einen Seite des Ganges führte eine Treppen nach oben, vermutlich zu Roberots Schlafzimmer, da ich das durch keine der offenen Türen hier unten erspähen konnte. Da fragte man sich doch, ob das Haus auch einen Keller und einen Dachboden hatte. Zutrauen würde ich es ihm jedenfalls.
„Eure Robben und Schuhe könnt ihr hier lassen. Die Waffen könnt ihr gerne mitnehmen, wenn ihr euch dadurch sicherer fühlt.“
Wir kamen der Aufforderung nach, obwohl es mich wie immer schmerzte meine Robbe einfach an einem Kleiderhaken zurückzulassen. Ich fragte mich jedes Mal, ob das nicht total unbequem und einsam für das arme Ding sein musste. Wobei einsam im Auge des Betrachters lag, da sie die Robben der anderen als Gesellschaft hatte.
„Hier entlang“, rief Roberot und stieß die Tür zu dem Raum auf, den ich korrekterweise als Wohnzimmer identifiziert hatte. „Sucht euch einfach einen Platz auf den Sofas und Sesseln. Die Papierstapel könnt ihr einfach irgendwo hinlegen, wo Platz ist.“
Was er damit meinte, stellte sich heraus sobald wir das Zimmer betraten. Es gab eine große Anzahl von Polstermöbeln in verschiedensten Farben, alle verblasst und alle voller Zettel. Es war schweres Papier, wie die Seiten eines alten Manuskripts, handbeschrieben. Sorgfältig sammelte ich alle Stapel von dem Sessel, den ich mir asuerkoren hatte und legte sie fein säuberlich auf ein freies Fleckchen Boden. Blue nahm einfach die beiden Stapel Papier auf seinem Sofa, legte sie übereinander und stopfte sie auf die Fensterbank zwischen zwei Orchideen.
„Blue! So geht man nicht mit den Sachen andere Leute um!“, zischte ich.
„Was hast du?“, beschwerte er sich. „Er hat doch gesagt wir sollen Platz machen!“
Das war vergebliche Liebesmüh.
„So. Hier kommt der Tee.“
Roberot kam rückwärts durch die Tür, ein Tablett in den Armen balancierend. Darauf standen zwei Kannen mit heißen Getränken, mehrere Tassen und Untertassen, sowie ein Teller mit Sandwitches, die Blue bereits gierig beäugte.
„Hier hätten wir einmal Kaffe und dann eine Kanne heißes Wasser. Dazu kann ich Antwortee und Zeigtee anbieten. Die Beutel könnt ihr selbst in eure Tassen tun und ziehen lassen. Das auf dem Teller sind Sand Witches. Vorsicht, die Dinger sind unberechenbar.“
Blue, der sich bereits eine der Sand Witches geschnappt hatte, tat das Essen wieder zurück auf den Teller. „Warum?“
„Wenn sie jemanden nicht mögen, versuchen Sand Witches die Person zu ärgern, die sie essen möchte. Entweder verwandeln sie sich einfach in Sand – daher kommt der Name – oder sie sie fliegen auf ihren Besen davon.“
Jetzt konnte ich auch sehen, dass die Sand Witches wie echte Hexen geformt waren. Ob Blue bei seiner nicht gerade einnehmenden Persönlichkeit einen Nachteil bei den Sand Witches haben würde, würde sich zeigen. Die erste Sand Witch war ihm jedenfalls bereits aus den Fingern geflogen und war direkt in Freundschafs Maul gelandet.
„Jetzt essen wir erst mal in Ruhe – sofern die Sand Witches sich essen lassen“, fügte er nach Blues beleidigtem Blick hinzu. „Und danach besprechen wir auf was ihr im Legendenwald achten müsst.“
Die Sand Witches erwiesen sich als weniger hartnäckig als gedacht. Jedem von uns flog höchstens eine weg (außer Blue, dem gleich drei Hexen auf diese Art und Weise entkamen und eine sich in seinem Mund in Sand verwandelte) und den Rest konnte man prima mit Tee oder Kaffee runterspühlen. Ich hätte gerne probiert, ob der Antwortee wirklich antwortete, wenn man eine Frage stellte, aber wollte mich nicht vor der versammelten Mannschaft zum Deppen machen.
„Es ist schön mal wieder Besuch zu haben“, meinte Roberot.
Was das anging hörte er sich ein wenig wie Himmelrich und Mathilda an. Auch wenn er in den letzen paar Jahrhunderten definitiv mehr Besuch gehabt hatte als die beiden. Von dem, was er erzählt, waren Märchen gerade wieder im Kommen. Die Besucher seines Legendenwaldes wurden von Jahr zu Jahr mehr.
„Dann wollen wir mal zum ernsten Teil es Gesprächs kommen. Zuerst muss ich euch warnen. Hier gibt es all die Märchenfiguren, von denen ihr immer geträumt habt. Dornröschen, Schneewittchen, Aschenputtel, den kleinen Muck, die kleine Meerjungfrau… aber auch jeden Bösewicht, gegen den all eure Lieblingshelden je kämpfen mussten. Die bösen Stiefmütter, die Drachen, die Flaschengeister… Und die verzerrten Varianten gibt es auch.“
„Verzerrt? Wie das?“ Ich schob mir ein letztes Stück Sand Witch in den Mund und wartete auf eine Antwort.
„Nicht alle Legenden überleben die Jahrhunderte ohne sich zu verändern. Teilweise bilden sich Abspaltungen der Originale, manchmal verändern sich die Originale, manchmal bilden sich Sachen komplett neu… Zum Beispiel gibt es die Zyklopfen.“
„Wasch isch dasch?“ Auch Blue hatte den Mund voller Sand Witch, allerdings zierte er sich im Gegensatz zu mir nicht auch in diesem Zustand zu sprechen.
„Eine andere Variante von Zyklopen, natürlich! Das Klopfen kann ziemlich nervig werden. Allerdings sind die nicht so schlimm wie Rotkläppchen  Das klatscht den ganzen Tag."
Ich versuchte mir die Zyklopfen und Rotkläppchen vorzustellen, aber das einzige, was mein Gehirn auf die Reihe bekam, war ein seltsames Klatschkonzert.
"Dann gibt es die Waffee, eine bewaffnete Fee… ein fieses Ding ist das. Und haltet euch von den Wölfen fern! Die sind keine Nuscheltiere, bestimmt nicht. Die können sprechen und sich anhören wie ihr, aber wenn ihr einmal in die Nähe ihrer Zähne kommt, dann Gnade euch Gott.“
Er führte noch weitere Eigenheiten und Kreaturen des Waldes auf. Zum Beispiel meinte Roberot, dass draußen lauter winzige Elfen in den Bäumen hockten und Rotkäppchen spielten – allerdings mit uns, indem sie versuchten uns vom Weg abzubringen. Eher der guten Seite zugetan war wohl die Sorte Elfen mit weißen Rädern an ihren Flügeln, die allerdings von Ammeisten bewacht wurden, einer großen Anzahl riesiger Ameisen, die ätzende Säure versprühten, um Feinde fernzuhalten und die alles tun würden, um ihren Erlenklönig zu beschützen, der angeblich ein Bruder des Erlkönigs war.
Diese beiden Elfenvölker waren generell mit Vorsicht zu genießen, denn seit Jahren lieferten sie sich eine Schreiholzschlacht, bei der sie sich mit Streichhölzern bekämpften und dabei laut schrien. Irgendwo liefen wohl auch ein paar Thorfolger herum, die sich an den nordischen Legenden orientierten.
Nun ja, niemand hatte behauptet der Legenden-Wald wäre nicht weniger verrückt als die ganzen anderen Ecken des NaNo-Landes.
Gerade weil es so viel gab, was man sich merken musste, bot Roberot an, uns in die Ecke zu begleiten, in der wir am ehsten Material zu den Freundschafen finden würden. Ziemlich bald nachdem wir den Rest Zeigtee und Antwortee ausgetrunken hatten, brachen wir auf. Auch auf dem Weg waren so einige Eigenheiten zu entdecken.
Ein Baum am Wegesrand war mit Mops und Pilzen überwuchert. Die Möpse fingen tatsächlich an zu bellen, als wir vorbeikamen, waren aber nicht im Stande uns zu folgen, da sie mit dem Baumstamm verwachsen waren. Wir liefen auf einer relativ unbelebten Straße – andere Straßen wiederum lebten sehr wohl und uns wurde geraten sich von ihnen fernzuhalten.
Was Hannes am meisten begeisterte war das Kronfeld, an dem wir vorbeikamen. Laut Roberot hatten daher die Märchenkönige ihre opulenten Kopfbedeckungen.
„Das hier ist ein Kronfeld“, erklärte er uns. „Da wachsen die besten Kronen!“
„Mein Vater hat seine auch hierher, glaube ich“, sagte Hannes. „Naja, er hat sie vererbt bekommen, aber das läuft aufs Selbe raus. Den Legendenwald gibt es schon ewig und irgendeiner meiner Ur-ur-ur-wasweißichwievieleurs-Großväter hat sich hier seine Krone geholt.“
An wieder einer anderen Stelle nahm langsam ein Pan in meinem Kopf Gestalt an. Eine Weile lang dudelte er mich mit einer Panflöte voll, bis ich Roberot davon erzählte und er dem Pan höflich aber bestimmt sagte er solle doch bitte aus meinem Kopf verschwinden. Es tummelten sich unheimlich viele Wesen aus unheimlich vielen verschiedenen Welten hier. Altenglische und nordische Legenden, Mythen aus Griechenland, Märchen von Grimm… ich war froh, dass Roberot uns seine Hilfe angeboten hatte, denn ohne ihn hätte ich in diesem Wald weder ein noch aus gewusst.
Nachdem er uns die Ecke gezeigt hatte, in der wir suchen sollten, bat er uns nicht zu sehr vom Weg abzuweichen und uns vor Anbruch der Dunkelheit wieder auf den Rückweg zu machen. Er hatte anscheinend etwas zu erledigen, denn die Elfen hatten die nächste Schlacht in ihrem langen Krieg der Schreiholzschachtel begonnen und Roberot versuchte zu vermitteln.
Die Bäume zu durchsuchen stellte sich als schwieriger heraus als gedacht. Nicht nur, dass jeder Baum mehrere Geschichten beinhaltete, die man dadurch freisetzte, dass man die Rinde an verschiedenen Stellen zurückzog und dann in den Seiten darunter herumblätterte, es fiel mir auch noch sehr schwer mich nicht in all den verschiedenen Mythen festzulesen. Immer wieder stieß ich beim Überfliegen auf Passagen, die mich einfach zu sehr interessierten.
Unsere Rettung war ausgerechnet Freundschaf. Immer wenn jemand aus unserer Gruppe sich in einem Buch festlas, stellte es sich neben die betroffene Person und machte so laut „Mäh!“ wie es konnte. Dieser Vorgang musste bei jedem Gruppenmitglied mehrmals wiederholt werden.
Das war das große Problem von Bücherliebhabern, die von Büchern umgeben waren, ob das nun in einer Bibliothek war, oder einem Wald, der aus Büchern bestand. Wie konnten es einfach nicht lassen zu lesen.
Dadurch bemerkten wir nicht wie die Sonne langsam begann zu sinken und die Dämmerung begann. Ich bemerkte nur, dass es dunkler wurde, als ich Schwierigkeiten bekam die Buchstaben auf den Seiten zu entziffern.
„Leute, ich glaube wir sollten uns langsam auf den Rückweg machen“, sagte ich.
Auch den Weg hatten wir weit hinter uns gelassen, so vertieft waren wir in die Bücher gewesen. Ich konnte ihn gerade noch weit hinten ausmachen, da die Vegetation sich ein wenig von der unterschied, die an allen anderen Stellen des Waldes zu finden war.
Blue hatte sich in einem Teil von Beowulf festgelesen, das anscheinend mehrfach im Legendenwald vertreten war und es stellte sich als besonders schwierig heraus ihn zum Gehen zu bewegen. Als wir uns endlich in Bewegung setzten, konnten wir gerade noch genug sehen, um zum Weg zurückzufinden. Das mulmige Gefühl, das ich bereits beim Betreten des Waldes gespürt hatte, meldete sich wieder.
 Blue stolperte neben mir durch das Gebüsch, dicht gefolgt von Oma, doch deren Robbe verfing sich an einem Werg. Zuerst dachte ich es wäre nur ein Ast, doch das vermeintliche Stück Holz entpuppte sich sehr schnell als stark fluchender Werg, der mit der Faust fuchtelte und sich über meine Oma beschwerte.
„Das tut mir wirklich unendlich leid…“, begann sie, kam jedoch nicht weit, da sie von einer ganzen Horde Werge überrannt wurde, sie sich im Gebüsch versteckt gehalten hatten.
Die Horde Werge erreichte Blue, Freundschaf und mich und schon bald waren wir umzingelt.
„Blue, wir brauchen deine Schwertkraft!“, rief Oma.
Er machte sich sofort auf den Werg, um seine Aufgabe zu erfüllen – nämlich die Werge zu besiegen. Aber Blues Schwertkampfkünste waren wohl etwas eingerostet, denn bevor er tun konnte was meine Oma vorgeschlagen hatte, wurde er von der Horde niedergerissen und das Schwert aus seiner Hand geschlagen. Vielleicht hatte er während des NaNo doch zu viel getippt und seine Finger waren noch verkrampft. In einem Nahkampf half mein Bogen auch nicht viel. Allerdings hatte die Feder um meinen Hals wieder begonnen Wärme zu verströmen.
"Mach doch einer was!" brüllte Hannes.
Ich richtete mich auf, so gut ich das in meiner Lage konnte, da auch an meinen Beinen jede Menge Werge hingen, sprach einen Zauber und warf dem Feind verzweifelt eine Käsereibe entgegen.
„Shit!“ So war das nicht geplant gewesen. Warum gingen diese Zauber immer schief, wenn ich sie am meisten brauchte?
Auch ich ging zu Boden und so wurden wir von einer Welle von Wergen immer tiefer in den Wald getragen, während der rettende Weg aus unserem Sichtfeld verschwand.

1 Kommentar:

  1. Eine wunderschöne Vorstellung dieser Märchenwald... und cooler Cliffhanger.

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