Dienstag, 10. November 2015

10. Kapitel



„Auaaaaa, mein Kopf…“ Blue lag wieder mit dem Kopf auf dem Teppich, die Augen geschlossen, die Haut käseweis. Hoffentlich würde ihm das helfen zumindest weise genug zu werden, um nie wieder so viel zu trinken.
„Das hast du davon! Ich hatte dir gesagt du sollst nicht so viel trinken. Den Kater hast du selbst zu verschulden!“, rügte ich ihn.
Blue war zwar nicht der einzige aus der Drachenschenke, dem es so dermaßen dreckig ging, aber er war der einzige aus unserer Gruppe, der einen Kater hatte. Oma und ich hatten zwar auch unseren Spaß gehabt, aber nicht allzu viel getrunken und der Fakir war zumindest flugtauglich geblieben. Nur Blue hatte es mal wieder übertreiben müssen.
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er alles nach dem Prinzip „ganz oder gar nicht“ anging. Das war so, wenn er im November schrieb, so dermaßen viel, dass mir nur die Augen aus dem Kopf fallen konnten, er dabei allerdings den Rest seines Lebens vernachlässigte. Da konnte man schlussfolgern, dass es in den anderen Bereichen seines Lebens ähnlich lief.
Blue stöhnte wieder und es regte sich ein wenig Mitleid in mir. Er war zwar selber schuld, aber das konnte man ja nicht mit ansehen.
Von wegen geteiltes Leid ist halbes Leid. Heute morgen waren in der Drachenschenke nur verkaterte Autoren und Charaktere unterwegs gewesen. Der Wirt hatte eine ganze Armee von Kaffemaschinen aufgestellt, um alle versorgen zu können. Ein paar von ihnen hatten einige Defekte gehabt, aber die meisten der Gäste hatten sowieso zu große Kopfschmerzen, um irgendetwas davon mitzubekommen. So waren die Kaffemaschine, Kaffeemschne, Laffeemschiene, Kaffeemaschiene, Kaffemachine und eine normale Kaffeemaschine in Betrieb gewesen. Als wir abgeflogen waren, waren immer noch Leute mit blutunterlaufenen Augen von oben in die Schenke getorkelt und hatten um Koffein gebeten.
Seufzend befreite ich die Kette mit der Phoenixfeder von diversen Schichten Kleidung, die ich übergezogen hatte und hielt sie hoch.
„Das mache ich wirklich nur, weil wir dich voll funktionstüchtig brauchen“, seufzte ich.
„Mia“, warnte meine Oma. „Erinnere dich an das, was Phoenix gesagt hat. Die Feder entzieht dir jedes Mal Lebenskraft, wenn du sie benutzt. Ist es ein Kater wirklich wert?“
„Vielleicht. Immerhin geht es hier nicht nur um Blues Kater, sondern darum, dass wir versuchen die Geschichten des NaNo-Landes zu retten. Wenn wir heute Blues Schwertkraft brauchen und er dabei ist sich an einem Baum zu übergeben…“
Blue stöhnte erneut und meine Oma bekam einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Ich glaube ich sehe was du meinst.“
Ich stellte mir vor wie die Feder um meinen Hals wärmer wurde und wieder anfing ihr goldenes Licht abzugeben. Eine ganze Portion davon schickte ich in Blues Richtung, dessen Stöhnen sofort leiser wurde, bis er mit einem erleichterten Lächeln in der Mitte des Teppichs lag.
„Momentan ist es mir sogar egal, dass ich auf einem fliegenden Teppich liege. Danke, Mia.“
Ich spürte wie ein Teil meiner Lebenskraft sich verflüchtigte, nicht so viel wie ich befürchtet hatte, aber trotzdem genug, um Blue Vorwürfe dafür machen zu können, dass ich meine Kraft für etwas aus dem Fenster schleudern musste, was er eigentlich hätte vermeiden können.
„Du schuldest mir was. Denk dran“, grummelte ich und steckte die Feder wieder weg.
Der Fakir hatte alldem mit großen Augen zugesehen. „Du kannst zaubern?“
„Naja, ein bisschen.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Eine Freundin hat mir die Feder geschenkt.“
„Was genau habt ihr eigentlich im Legendenwald zu suchen?“, wollte er wissen.
„Freundschafe. Oder Informationen über Freundschafe. Es kann nicht schafen, informiert zu sein“, erklärte ich ihm.
„Mäh“, machte Freundschaf zustimmend.
Heute benahm es sich und kaute nicht auf Teppichfransen herum, vielleicht, um Blue einen Gefallen zu tun. Ich hatte das Gefühl, dass er uns allen etwas leidgetan hatte. Heute hatte es sich dazu herabgelassen ihm während des Fluges als Kopfkissen zu dienen, sodass er mit dem Kopf in Freundschafs weicher Wolle lag und in die Wolken hinaufschauen konnte.
Wir flogen gerade über den Wald, in dem wir damals den Schwertreitern und den Gegenwichten über den Weg gelaufen waren. Irgendwo dort unten waren auch der Mund der Dares und das Arschiv versteckt. Bei Letzterem hoffte ich, dass das niemals wieder jemand fand.
Ende Oktober hatte der Wald viel schöner ausgesehen. Alle Blätter hatten angefangen bunt zu werden, es war ein einziges Farbenmeer gewesen. Dagegen war selbst die Halle der Farbbeutelwürde in der Gallerie nichts. Jetzt waren die meisten Bäume kahl und nur die dunklen Nadelbäume ragten zwischen den kahlen Zweigen der Laubbäume empor.
„Im Legendenwald sind die Bäume immer grün“, meinte Hannes plötzlich.
Er hatte sich auch über den Teppichrand gebeugt und schien ähnlichen Gedanken zu folgen wie ich.
„Warum das denn?“ Von sowas hatte ich ja noch nie gehört.
„Na das ist eine Märchengegend! Wenn die richtig gepflegt wird, bleiben die schrecklichen Teile eines Märchens im Hintergrund und es gibt ein ewiges Happy End.“
„Und wenn der Legendenwald nicht richtig gepflegt wird?“
„Dann triumphieren die Monster. Stell dir Hänsel und Gretel vor, aber mit dem Ende, dass die Kinder gefressen werden. Stell dir Dornröschen vor, das niemals wachgeküsst wird. Oder Aschenputtel, die bis in alle Ewigkeit ihrer Stiefmutter und den Stiefschwestern dienen muss. Oder den Froschprinzen, der niemals zurückgeküsst wird…“
Oje, er hatte wieder einen seiner Mitleidstage. Vielleicht war daran Blues bis eben noch schlechte Laune schuld.
„Warum bist du eigentlich nicht in der Märchengegend? Du bist doch der Froschprinz?“, fragte der vom Kater, aber leider nicht von seiner Insensibilität befreite Blue.
„Die Gegenden sind so nah beieinander, dass es eigentlich keine Rolle spielt. Den Drachen habt ihr ja auch schon gesehen. In einigen Ecken verschwimmen die Genres eben. Das habt ihr doch auch in der Schwingenden Stadt gesehen.“
Vielleicht doch nicht komplett unsensibel. Immerhin schien ihn das Thema ein wenig davon abzulenken, dass er noch immer in der Form eines Frosches festsaß.
„Wir sind gleich da. Alle festhalten für den Landeanflug bitte.“ Der Fakir brachte den Teppich in den Sinkflug und sowohl Hannes als auch Blue hörten auf zu reden. Vielleicht war es gut, dass wir bald den Kopf voller Freundschafe haben würden. Dann hatten die beiden keine Zeit mehr in Selbstmitleid zu schwelgen.
Der Fakir setzte den Teppich sanft auf einer Wiese ab. Es sah so aus, als wären wir hier vollkommen allein. Bisher hatte es in jeder Region irgendeine Form von Betrieb gegeben. In den Städten sowieso, aber selbst in den Dörfern der Fantasy-Gegend, oder dem Könlingsschloss gab es Menschen. Hier kam ich mir sofort allein vor, obwohl mich meine Freunde begleiteten.
„Da wären wir. Ich warte hier“, meinte der Fakir nur.
Für solche Fälle schien er ein Instant-Zelt dabeizuhaben, denn das entfaltete sich gerade von selbst und innerhalb von wenigen Minuten hatte der Fakir sich ein schützendes Zelt und ein warmes Feuer aufgebaut. Wenn da nicht ein wenig Magie im Spiel gewesen war, dann wusste ich auch nicht wie er das geschafft hatte. Und da tat er so als ließe er sich von meiner Feder beeindrucken…
Der Rest der Truppe trat an den Rand der Lichtung, wo ein hohes Tor zu sehen war. Der Torbogen war aus Holz, das mit diversen Runen versehen war. All das sah unheimlich alt aus und war mit Ranken überwachsen, sodass ich, selbst, wenn ich die Runen lesen könnte, sie nicht hätte entziffern können.
Es dauerte ein paar Sekunden, bevor ich realisierte, dass ich vor einem halb verbitterten Torbogen stand. Das wurde erst deutlich als das Ding anfing zu sprechen.
„Hey ihr. Ja ihr. Kommt ihr jetzt rein, oder bleibt ihr ewig ein paar Meter entfernt von mir stehen?“, fragte das Holz.
„Ähm… da ist ein sprechender Torbogen…“, flüsterte Blue.
„Klar kann ich sprechen, du Holzkopf!“, maulte der Torbogen. Hey, das Ding wurde mir langsam sympathisch!
„Kommen hier oft Leute durch?“, fragte ich.
„Nein, leider nicht. Früher kamen viele. Dann wurden es weniger. Jetzt werden es wieder ein paar mehr…“ Der Bogen schien in seinen Gedanken abzudriften, denn er sprach nicht weiter und machte keine Anstalten das Gespräch weiterzuführen.
„Gehen wir einfach“, flüsterte Hannes, der wieder auf meiner Schulter saß, in mein Ohr.
„Passt auf. Hier kann es gefährlich sein“, warnte der Bogen. „Und schön. Gefährlich und schön…“
Na das hörte sich ja vielversprechend an.
Wir gingen tiefer in den Wald hinein und folgten dem halb von Pflanzen überwucherten Pfad, der sich durch die Bäume schlängelte.
„Lasst uns einfach so in den Wald gehen. Vielleicht ist der Weg schneller“, meinte Blue.
Seine Hand hatte er an seinem Schwert und auch ich war froh, dass ich meinen Bogen über die Schulter geschlungen hatte. Vor allem nach der Ansage des Torbogens war mit ein wenig mulmig zu Mute.
„Bloß nicht“, widersprach Hannes. „Erinnerst du dich nicht an Rotkäppchen? Du weißt, dass sie vom Wolf gefressen wurde, weil sie den Weg verlassen hat, um Blumen zu pflücken, oder? Wir sind hier im Märchenland. Da wird sich an Märchenregeln gehalten.“
Leider musste ich ihm Recht geben. Ich musste immer daran denken, was Hannes während des Fluges gesagt hatte – dass das Märchenland immergrün wäre. Nun ja, hier war offensichtlich gerade Herbst, denn die Blätter begannen sich gelb zu färben. Die meisten waren immer noch grün, aber man konnte sehen in welche Richtung das hier führte. Was sagte das über die momentane Gefährlichkeit des Legenden-Waldes aus?
Zuerst bemerkte ich es nicht, als sich die Bäume veränderten. Dann jedoch wurde es so deutlich, dass ich es nicht länger ignorieren konnte und stehen blieb, um die Rinde eines Baumes zu betasten.
„Was machst du da, Mia?“, wollte meine Oma wissen.
Siehst du nicht, dass sich die Bäume langsam aber sicher in Bücher verwandeln? Dieser hier hat sogar Seiten…“
Tatsächlich konnte ich die Rinde aufblättern und fand darunter beschrieben Blätter wieder. Die Geschichte, die ich aufgeschlagen hatte, war Rotkäppchen. Entweder zeigten diese Bäume also das, woran man gerade dachte, oder sie beeinflussten das, woran man dachte, sodass man dadurch die Geschichten finden konnte. Oder es war einfach Zufall gewesen.
„Sie hat Recht!“ Blue war auf die andere Seite des Weges gelaufen und blätterte in einer Linde. „Das hier ist Das Wirtshaus im Spessart“.
„Ich habe Beowulf“, meinte meine Oma.
„Beowulf?“ Ich sah mir ihren Baum genauer an und tatsächlich hatte sie die altenglische Heldensaga gefunden. „Ich hätte nicht gedacht, dass das mit zu den Märchen zählt.“
„Legenden-Wald, Mia. Nicht Märchenwald“, erinnerte Hannes mich.
Er hatte Recht. Legenden und Märchen waren nicht zwingend dasselbe. Sie hatten dieselben Wurzeln, aber wenn man sie miteinander verglich… man das passte einfach zu gut auf diesen Bücherwald. Das hier mochte vielleicht sogar die erste Bibliothek sein. Vielleicht waren Bibliotheken nach diesem Beispiel gebaut worden. Der Wald an sich schien mir jedenfalls sehr alt zu sein.
"Ich traue mich kaum hier draußen irgendetwas zu erzählen, wo doch hinter jedem Buch jemand stehen und mithören könnte", meinte Hannes und schaute über meine Schulter mit in das Buch, das ich aufgeschlagen hatte. Ich hatte die Nibelungensaga erwischt.
„Vorsicht mit den Bäumen. Die Seiten sind sehr alt und ich würde sie gerne für die Nachwelt bewahren“, ertönte plötzlich eine Stimme aus der Richtung, in die wir gegangen waren, bevor wir von den lebenden Büchern abgelenkt worden waren.
Blue hatte sofort sein Schwert gezogen und ich hatte meinen Bogen gespannt. Nicht, dass es nötig war, denn meine Oma hatte ihren Regenschirm fester gepackt. Nichts hatte eine Chance gegen sie und den Starb.
„Keine Sorge. Ich will euch nichts Böses“, beteuerte der Mann, der nun aus den Schatten getreten war.
Er hatte schlohweißes Haar und einen kurz getrimmten Bart derselben Farbe. Außerdem trug er eine rote Robe – nein, Robbe. Ich konnte sehen wie sie atmete.
„Mein Name ist Roberot und ich bin der Hüter des Legendenwalds. Der Torbogen hat mich vorgewarnt, dass wir heute Besucher bekommen.“
„Aber wie geht das? Der Torbogen ist dort hinten und Sie kommen von da vorne!“, sagte Blue, sein Schwert immer noch bereit.
„Der Torbogen ist ein Duplikat. Ein Teil steht am Eingang des Legendenwaldes, der andere Teil steht dort, wo einmal der Ausgang war, bevor der Wald gewachsen ist. Die beiden sind direkt miteinander verbunden. Deshalb habe ich den Torbogen in mein Haus integriert; so weiß ich immer wer mein Gebiet betritt.“
So seltsam es sich auch anhörte, mir erschien das plausibel. Also packte ich meinen Bogen wieder weg. Freundschaf schien ähnlich zu denken, denn mit einem „Mäh“ ging es auf Roberot zu und ließ sich von ihm streicheln. Das schien letztendlich auch Blue davon zu überzeugen, dass der seltsame Mann es nicht übel mit uns meinen konnte.
Wenn ihr wollt, helfe ich euch zu finden was auch immer ihr sucht – und rate euch von welchen Ecken des Waldes ihr euch besser fernhalten solltet.“
„Das hört sich nach einem guten Vorschlag an“, meinte meine Oma. Ihren Schirm benutzte sie nun wieder als Gehhilfe.
„Dann folgt mir bitte.“
Roberot schien Hannes‘ Meinung zu teilen, denn er blieb immer auf dem Weg, selbst wenn dieser einen Schlenker machte und man dachte, einfach querbeet zu laufen könnte eine Abkürzung sein.
„Also, was führt euch hierher?“, wollte er wissen.
„Wir suchen die Verwandtschaf von Freundschaf und haben uns gefragt, ob es nicht ein paar Legenden über die Freundschafe gibt. Das könnte uns Anhaltspunkte geben wo wir als nächstes suchen könnten.“
„Das war ein sehr guter Gedanke. Wenn man eine Legende sucht, ist der beste Platz zum Suchen entweder hier, oder in der Wandernden Bibliothek, aber da die nicht immer auffindbar ist…“ Er zuckte mit den Schultern.
„Vor etwa einem Monat haben wir sie gefunden“, sagte ich.
Roberot hob sofort interessiert den Kopf, um mich anzusehen. „Wirklich? Wie geht es Himmelrich und Mathilda?“
„Sie kennen die zwei? Ich dachte alle Leute, die sie je gekannt haben, wären schon längst tot!“
„Sein ganzen Leben einer Bibliothek zu widmen, scheint einen selbst zu einer Art Geschichte zu machen. Anders kann ich mir jedenfalls nicht erklären, dass auch ich ein unheimlich hohes Alter erreicht habe. Vielleicht haben Bücher einfach ihre eigene Magie…“
Das glaubte ich ihm sofort. Dass Büchern eine Magie innewohnte, konnte ich mir nur zu gut vorstellen.
„Wie wäre es, wenn ihr mit mir Kaffee trinkt und ich euch erkläre wie ihr eure Schafslegenden finden könnt?“
Kaffee hörte sich nett an. Vielleicht würde der das letzte bisschen von Blues Hangover vertreiben.

3 Kommentare:

  1. Ach du heilige... das war die Stelle wo Mia ungeplanterweiße Lebenskraft eingebüßt hat oder. Ganz schön krass... hoffentlich weiß Blue das zu würdigen. Und Mia packte ihren Bogen ein... da bist du kurz ins Präsenz gerutscht.

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    1. Nein, Blues Hangover ist nicht genug, um sie die Hälfte ihrer Lebenskraft zu kosten. Die Stelle kommt noch, so um Kapitel 20 rum, glaube ich.

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    2. Okay... dann heißt es wohl abwarten und Tee trinken.

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