Montag, 2. November 2015

Epilog Band 1



Die Blätter unter ihren Füßen brachen. Im Tageslicht würden sie rot, gelb und orange leuchten, doch in der Dämmerung sahen sie aus wie benutzte, brüchige Putzlappen.
Es war gut wieder die Kraft zu spüren, die durch ihre Glieder floss. Schon so lange hatte sie ohne Magie gelebt; beinahe hatte sie vergessen wie es war, wenn man von Kopf bis Fuß nur so vor Macht strotzte. Sie hätte alle Blätter wieder an die Bäume zaubern können, oder den ganzen Wald anzünden können – wenn sie es nur gewollt hätte. Allerdings brauchte sie ihre Kraft für etwas anderes.
„Meinst du wirklich, dass das so eine gute Idee ist?“, krächzte etwas in ihr Ohr.
Estelle zuckte zurück und eine leuchtende Flamme erschien in ihrer Hand. Das Geräusch von aneinander reibenden Federn erklang und schon bald sah sie der Rabe, der eben noch neben ihrer Schulter herumgeflattert war, von einem Ast einen Meter über ihrem Kopf an.
„Ach halt den Schnabel. Jahrelang lässt du dich nicht blicken und ausgerechnet jetzt…“
„Ich bin ein Hexenvogel. Was hast du denn gedacht?“ Das Vieh begann sein Gefieder zu putzen, ließ sie jedoch keine Sekunde aus den Augen. „Du hattest jahrelang keine vernünftigen Zauberkräfte. Was sollte ich da bei dir?“
Estelle schnaubte nur und ging weiter. Die Flamme ließ sie an, damit sie ihr den Weg erleuchtete und wenigstens ein paar Blätter für wenige Sekunden wieder rot erscheinen ließ.
„Ich könnte dein Gekrächze auch einfach ertranken“, meinte sie.
Wieder das Geräusch von Federn. Als sie dieses Mal die Flamme emporhob, sah sie der Rabe aus funkelnden, schwarzen Augen von noch weiter oben an.
„Nicht ertränken! Pah, du hast dich kein bisschen verändert“, maulte er.
Sie zuckte nur mit den Schultern und ging weiter. Diesen Weg war sie so oft gegangen, vor so vielen Jahren. Nie war sie weiter gekommen als ein paar hundert Meter entfernt von ihrem alten Haus.
„Und was willst du überhaupt da? Sie ist tot. Da kannst selbst du nichts gegen machen.“
„Wir werden sehen. Sie ist bei dem Versuch gestorben mir meine Zauberkräfte zurückzugeben. Das Mindeste, was ich versuchen kann, ist ihr zu helfen.“
Der Rabe antwortete nicht, schien es jedoch wieder für sicher zu halten sich auf ihrer Schulter niederzulassen. Mit seinem Schnabel zupfte er ein wenig an ihren Haaren, hinter dem Ohr, wie er es vor vielen Jahren schon getan hatte.
„Ich hab dich vermisst“, gurrte er. „Auch wenn du manchmal ganz schön nervtötend sein kannst.“
„Gleichfalls.“
Den Rest des Wegs legten sie in Schweigen zurück. Ein paar Mal tauchten einige Plotbunnys zwischen den Bäumen auf. Hatten sie es also auch bis hierher geschafft. Zum Glück hielt ihr Schutzschild gegen sie. Eine Geschichte, die sie ablenkte konnte Estelle jetzt wirklich nicht gebrauchen. Hoffentlich fanden Mia, Marga, Blue und Freundschaf bald einen Weg die loszuwerden.
Erst als die Umrisse des alten Hexenhauses vor ihnen auftauchten, hörte Estelle auf zu gehen. So nah war sie noch nie gewesen, nicht seit der Nacht als ihr die Kräfte genommen wurden. Auch Kasimir blieb ruhig sitzen. Dann jedoch flatterte er mit den Flügeln und landete auf dem alten Dachfirst, der selbst unter seinem leichten Gewicht verdächtig knarzte.
„Bist du dir sicher…?“
Statt zu antworten machte sie ihre Flamme heller und trat auf das Haus zu und durch die Tür.
Bis auf die Tatsache, dass alles mit Staub bedeckt war und im Dunkel recht ominös erschien, sah alles aus wie früher. Ihr Herz machte zuerst einen freudigen Hüpfer, dann zog es sich krampfhaft zusammen. Nein. Hier würde sie nie wieder wohnen. Aber auch in ihrer neuen Hütte wollte sie nicht bleiben. Nicht jetzt, wo sie ihre Kräfte wiederhatte. Sie würde nicht an all die Jahre des Schmerzes erinnert werden.
Mit einem einzigen Fingerschnipsen verwandelte sie die Rutsche, die in den Keller führte, zurück in eine Treppe und begann die Stufen hinabzusteigen. Sie spührte genau wo die Falltür war. Der Geruch von Rum aus dem Keller benebelte ihre Sinne und sie ließ einen Luftzug von draußen durch das Gebäude wehen, um einen klaren Kopf zu behalten. Hierfür würde sie ihn brauchen.
„Mach schon. Das ist unheimlich hier.“
Kasimir hatte sich wieder auf ihrer Schulter niedergelassen. Zusammengekauert starrte er auf die Falltür, die sie nun sichtbar gemacht hatte. Der Geruch von Rum wurde schon bald durch den Geruch frisch aufbereiteter Hefe ersetzt.
„Was für beknackte Fallen. Wer hat sich so einen Mist ausgedacht“, grummelte der Rabe.
Langsam aber sicher erhob sich eine Gestalt aus dem dickflüssigen Gesöff. Eine Drachenlederjacke, kurzes, braunes Haar, das durch die klebrige Masse beinahe mit dem Gesicht der Frau verschmolzen zu sein schien.
„Sage ich doch. Tot.“
Der Rabe schien den Geruch nicht mehr aushalten zu können und flatterte zurück zur Tür.
„Schön, du hast sie. Jetzt kann sie immerhin in einem Grab beerdigt werden, das nicht so dermaßen stinkt. Gut für sie. Aber viel gebracht hat das nicht, wie du zugeben musst.“
„Du hattest schon immer ein hartes Herz, Kasimir“, murmelte Estelle und strich Phoenix eine der verklebten Strähnen aus dem Gesicht. Dann tastete sie nach einem Puls. Nichts. Aber das hatte sie erwartet. Wenn sie ihre Kräfte sofort zurückbekommen hätte, nachdem Phoenix in die Grube gefallen war… aber sie hatte ja erst das Gegenmittel mixen müssen.
„Vorwürfe bringen dich auch nicht weiter“, gab Kasimir hilfreich zum besten. Oder was er für hilfreich hielt.
Ein Schwebezauber half ihr Phoenix nach draußen zu schaffen. So konnte Estelle sie bequem zu ihrer neuen Hütte transportieren. Und dann…
„Oh nein. Oh nein, oh nein, oh nein, ich ahne was du vorhast.“ Der Rabe sah sie mit schiefgelegtem Kopf an. „Erinner dich an das letzte Mal! Du willst es nochmal versuchen, trotz des schlechten Lichs, den du mal erschaffen hast? Das war ein absolutes Desaster, falls du dich nicht mehr daran erinnern kannst. Haben die ganzen Jahre ohne Magie dich komplett wahnsinnig werden lassen?“
Vielleicht. Er hatte nicht ganz Unrecht, aber sie würde es trotzdem versuchen. Allerdings war ein Lich vielleicht wirklich keine gute Idee. Ein Vampir war auch nicht ganz ohne. Die hatten immer solche Probleme mit dem Sonnenlicht…
Ihre neue Hütte tauchte aus der Dunkelheit auf, doch Estelle steuerte auf einige Bäume am Waldesrand direkt dahinter zu. Hier hatte sie bereits vor ihrem Aufbruch ein Grab geschaufelt. Ein temporäres Grab, wie sie vielleicht hinzufügen sollte.
„Ich wusste es! Du bist verrückt geworden!“
Kasimir setzte sich auf einen der untersten Äste, als wollte er einen besonders guten Platz bei der Vorstellung haben, die ihr Leben ruinieren könnte. Nekromantie war noch nie ihr Ding gewesen. In die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft zu sehen, das war ihr Talent. Tote wieder lebendig zu machen war etwas ganz anders. Naja, weniger lebendig als un-tot. Was immer noch besser war als tot, wenn man einige Leute fragte, und eine absolute Blasphemie, wenn es nach der Krieche ging.
Vielleicht würde die Erde etwas gegen den Geruch machen. Estelle war sich sicher, dass sie nie wieder in ihrem leben etwas mit Hefe backen können würde, ohne sich an diese Nacht zu erinnern und die Schuldgefühle, die ihr den Bauch zernagten.
„Hol mir mal den Stab aus der Hütte.“
„Du hast das Zauberwort vergessen!“ Der Ast, auf dem der Vogel saß, wippte auf und ab, als er sein Gewicht verlagerte.
Bitte.“
„Na geht doch! Siehst du, Zaubern ist nicht schwer.“
Estelle konnte nur mit den Augen rollen. Sie hatte fast schon vergessen wie nervig ihr Hexentier sein konnte. Er hatte sie auserkoren, als sich ihre Kräfte das erste Mal bemerkbar gemacht hatten – sie hatte aus Versehen eine Scheune in Brand gesetzt. Dass sie ihre Kräfte und zur gleichen Zeit auch Kasimir verloren hatte, hatte ihr ganz schön zu schaffen gemacht. Allerdings hatte er Recht. Hexentiere dürften nur bei ihren magisch Begabten bleiben, solange diese ein gewisses Level innehatten. Sollte sie allerdings erfahren, dass er sich in dieser Zeit eine andere Hexe gesucht hatte, dann Gnade ihm und auch der anderen Hexe Gott. Wahlweise dürften sie auch zu anderen Gottheiten des NaNo-Landes beten, aber beten würden sie müssen.
„Hier. Das olle Ding ist auch nicht leichter geworden. Warum musstest du dir auch dieses Ding aussuchen. Das macht sogar Gandalf alle Ehre!“
Zum Glück war es so dunkel, dass Kasimir nicht sehen konnte wie ihre Wangen einen leichten Rotton annahmen. Tatsächlich war sie ein großer Fan von Herr der Ringe gewesen als es an der Zeit gewesen war sich einen neuen Zauberstab auszusuchen. Deshalb erinnerte der Wanderstab tatsächlich sehr an den, der im Film vom grauen Zauberer benutzt wurde.
Ein letztes Mal holte Estelle tief Luft, dann begann sie einige Worte herunterzurasseln, ohne Pause, ohne Atem zu holen. Das war der Teil, den die meisten Leute vermasselten. Wenn man auch nur ein einziges Mal stockte, wenn man die Toten beschwor, konnte das im Desaster enden – wie Kasimir mit dem Beispiel des Lichs bereits aufgezeigt hatte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht ihren toten Liebsten wiedererwecken zu wollen? Kein Wunder, dass sie an der wichtigsten Stelle hatte schluchzen müssen. Genau deshalb ging man mit sowas zu anderen Hexen, wenn es sich um jemanden handelte, der einem viel bedeutete.
„Konzentrier dich!“, mahnte Kasimir.
Die Spitze des Stabs begann sich zu füllen. Nicht mit Licht, sondern mit Schatten. Sie krochen unter den Bäumen hervor und wickelten sich wie dunkle Leichentücher um das Holz. Je länger sie sprach, desto mehr wurden es. Eine ungeübte Hexe hätte schon längst den Zauber unterbrechen müssen, oder wäre vor Luftnot zusammengebrochen, aber auch dafür gab es glücklicherweise Rituale.
Als die Spitze des Stabes so dunkel war, dass man das Holz darunter nicht mehr erkennen konnte, holte Estelle weit aus, schrie das letzte Wort und hieb das Stück Holz mit voller Wucht gegen Phoenix‘ Oberkörper.
„Na immerhin hast du ihr Leben eingehaut“, murmelte Kasimir. „Jemandem Leben einzuprügeln war immer schon viel effektiver als jemandem Leben einzuhauchen. Wie Leute auf diese schwachsinnige Idee gekommen sind, werde ich nie verstehen.“
Phoenix‘ Körper sah aus als würde eine Welle durch ihn gehen. Von den Zehenspitzen bis zur letzten Haarwurzel durchlief sie ein Schauer, dann lag sie wieder kalt und tot da.
„Hat es funktioniert?“
„Halt den Schnabel. Natürlich hat es funktioniert.“
Mit einem weiteren Schlenker des Zauberstabes verfrachtete Estelle die Leiche in das ausgehobene Grab und ließ mit einem Wink die daneben aufgehäufte Erde darauffallen. Dann ließ sie sich gegen den Stamm des nächstgelegenen Baumes sinken und schloss die Augen. Sie würde es spüren, wenn es Zeit war. Was sie gerade tat war wider die Natur und hinterließ immer Spuren. Sie riss ein Loch in das Gewebe von Leben und Tod. Niemand konnte die Konsequenzen vorhersehen. Manchmal ging es gut. Manchmal…
Kasimir ließ sich wieder auf ihrer Schulter nieder und vergrub seinen Schnabel in ihrem Haar. Er ließ die zwei Hälften seines Schnabels in einem schnellen Rhythmus aufeinanderklopfen, sodass ein regelmäßiges klapperndes Geräusch entstand. Wenn sie ihre Gedanken davondriften ließ, war es fast wie das beruhigende Schnurren einer Katze…
Ein Schub magischer Energie ließ sie aufschrecken. Der erste Streifen Morgenröte, der am Horizont aufgetaucht war, ließ sie erkennen, dass sie tatsächlich eingeschlafen war. Kasimir hatte sich nicht vom Fleck gerührt und starrte angestrengt auf den Haufen Erde vor ihnen. Auch Estelles Augen wanderten zu dem Grab, das nicht viel länger eines sein würde.
„Es ist so weit.“
Eine Feststellung, keine Frage. Selbst er spürte es. So stark war der magische Abdruck, dass Estelles Hände begannen zu zittern. Warum fühlte sich das anders an als damals? Vielleicht, weil sie dieses Mal alles richtig gemacht hatte? Oder hatte sie zuviel Magie in die Wiedererweckung gesteckt? Oder war Phoenix vielleicht so lange im Besitz ihrer Feder gewesen, dass ein Teil ihrer Macht auf sie übergegangen war? Das würde sie in ihrem neuen Zustand wesentlich gefährlicher machen als Estelle gedacht hatte.
Ein Erdkrumen ganz oben zitterte und rollte den Erdhaufen hinunter. Es folgten weitere. Ein blasser Finger streckte sich gen Himmel wie eine dicke Made. Die Erde sackte weiter ein, bis noch ein Finger erschien, dann ein weiterer, schließlich eine ganze Hand.
„Kein Wunder, dass das alle so gruselig finden“, flüsterte Kasimir. „Warum muss man die Leute auch begraben, bevor sie untot werden? Wenn man sie nur mit einem Stock schlagen könnte, hätten die Menschen vermutlich weniger Probleme mit der Erschaffung von Untoten.“
Estelle hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie tastete nach der Magie, die vor ihr am Werk war. Schon früh hatte sie festgestellt, dass sie, anders als die meisten anderen Menschen, noch einen weiteren Sinn besaß. Während andere nur ihre normalen Augen benutzten, benutzte sie auch ihre Inneren, diejenigen, die magische Strömungen wahrnehmen konnten. Die Luft um sie herum war mit Magie geradezu aufgeladen und überbrachte vor allem ein Gefühl: Hunger. Soweit war das keine Überraschung.
Einen Moment lang ragte der vollkommen aus der Erde befreite Arm in die Höhe, eine dunkle Silhouette vor dem immer heller werdenden Himmel. Gut, dass sie Phoenix nicht zum Vampir gemacht hatte. Das wäre wirklich mieses Timing gewesen.
„Tut mir leid, dass ich dich wieder zum Leben erweckt habe, nur damit du in den ersten Sekunden deines untoten Nicht-Lebens zu Staub zerfällst.“
Der Arm bewegte sich, tastete über den Untergrund. Die Finger bekamen eine Wurzel zu fassen, die Muskeln spannten sich an und langsam wurde der Körper aus der Erde gezogen. Eine weitere Hand erschien, die sich nun ebenfalls an die Wurzel klammerte. Als nächstes folgte der Haarschopf, in dem noch immer Reste von Hefe zu sehen waren. Zuerst würde sie wohl eine Dusche empfehlen. Wobei das nach einer Nacht im eigenen Grab vermutlich sowieso zu empfehlen war.
„Da!“
Kasimir hüpfte aufgeregt auf der Stelle. Er sah aus als wollte er sich das Geschöpf, das sich dort aus der Erde erhob, am liebsten aus der Nähe ansehen, doch er traute sich nicht näher heran als Estelles Schulter. Diese stand nun auf, sich auf den Stab stützend.
Ja, es hatte sie wirklich mehr von ihrer wiedererhaltenen Magie gekostet als sie gedacht hatte. Vermutlich war sie immer noch von der Prophezeiung vom Vortag ausgelaugt. Aber je länger man mit der Wiedererweckung wartete, desto unschöner war das Ergebnis. So würde Phoenix zumindest noch aussehen wie Phoenix. Größtenteils jedenfalls.
Das Gesicht sah schonmal nicht schlecht aus. Durch die langen Schatten der Dämmerung war es schlecht zu sagen und die Hefereste halfen auch nicht gerade, aber Phoenix schien sich kaum verändert zu haben. Die Gesichtsfarbe war vielleicht ein wenig (oder auch ein bisschen viel) ungesünder und die Augen hatten einen gejagten Ausdruck – oder einen Ausdruck, der darauf hindeutete, dass sie am liebsten alles verschlingen würde. Jap, definitiv ein Erfolg.
Am liebsten hätte Estelle ihr geholfen, doch das hier war ein Ritual und bei denen hielt man sich am besten immer genau an die Vorschriften. Das hier war wie eine zweite Geburt. Wie ein Küken, das es allein aus dem Ei schaffen musste. Diejenigen, die es nicht schafften, hatten sowieso schlechte Chancen später zu überleben.
Der Oberkörper war mittlerweile frei. Die Drachenhautjacke war voller Erde und Hefe. Nicht nur Phoenix würde eine Dusche gebrauchen können. Allerdings war die Jacke vielleicht von Vorteil, denn obwohl sie Sonne besser ertragen konnte als Vampire, würde sie leider ab jetzt eine kleine Schwäche gegen Feuer haben – Schwäche in dem Sinne, dass sie in Flammen aufgehen würde, wenn sie ihren Finger an ein Streichholz hielt. Aber hey, auch Unsterblichkeit musste ihre Nachteile haben.
Nachdem das erste Knie es aus dem Grab geschafft hatte, war der Rest ganz leicht. Schon bald lag Phoenix vor ihr. Ihr Mund öffnete sich und nach einem kruzen Seuchen, holte sie das erste Mal Luft.
„Das hört sich um einiges weniger gesund an als ein kurzes Seufzen“, murmelte Kasimir. „Iiih, kommt da Hefe aus ihrem Mund?“ Angewidert betrachtete Kasimir das Geschöpf vor ihnen.
„Das ist ganz normal“, seufzte Estelle. „Kruzes Seuchen, meine ich.“
„Wo… bin ich?“
Die Worte klangen wie aneinandergereihtes Rasseln. Kein Wunder nach einem Tag in der Hefe.
„Bei mir, Estelle.“
Sie trat nicht näher zu der am Boden kauernden Gestalt. Die magische Aura wurde stärker, im gleichen Moment, in dem das Gefühl von Hunger anschwoll.
„Ich… wer… was bin ich?“
„Ah, du hast es bemerkt.“
Die meisten waren orientierungsloser, wenn sie die Erde verlassen hatten. Einige hatten es so beschrieben als würden sie aus einer warmen Umarmung zurück ins Leben gerissen werden, wobei sie sich jeden Zentimeter selbst erkämpfen mussten. Zu kämpfen war fast ein Zwang, selbst für die, die sich später entschieden in die Erde zurückzukehren.
Genau deshalb hatte sie Phoenix‘ Gefährten nichts erzählt. Erstens hatte sie nicht gewusst, ob ihre Kräfte ausreichen würden, um die Gefallene wiederzubeleben. Zweitens hatte sie nicht gewusst ob, selbst wenn es funktionierte, Phoenix bleiben wollte. Bisher klang es vielversprechend.
„Dieser Drang… bleib weg von mir.“ Phoenix hustete ein paar weitere Stücke Hefe aus und ihre Finger krallten sich wieder um die Wurzel, die sie wie einen Anker benutzte. Dieses Mal schien sie sich nicht daran entlangziehen zu wollen, sondern versuchte sich auf der Stelle zu halten.
„Keine Sorge, ich weiß wie ich mich verteidigen kann.“
Kasimir schien diese Einstellung nicht zu teilen, denn er flatterte mit einem heiseren Krächzen zurück auf den Baum, auf einen Ast, den Phoenix nicht erreichen konnte.
Estelle stütze sich auf ihren Stab und deutete auf die Hütte. „Komm erstmal mit rein. Dann gebe ich dir was zu essen und du kannst duschen.“
Dafür, dass sie das noch nicht oft gemacht hatte, fand sie sich erstaunlich ruhig. Ihr Ausbilder wäre beeindruckt gewesen. Das hier war so entgegen der Reaktion, die sie damals gezeigt hatte, als er eine Maus wiedererweckt hatte, um der Klasse zu demonstrieren wie das Ritual funktionierte.
„Aber du gibst mir doch nicht etwa menschliches Gehirn zu essen?“
Der Abscheu in Phoenix‘ Stimme war deutlich zu hören, genau wie das Verlangen. Immerhin schien sie sich erstaunlich gut unter Kontrolle zu haben. Allerdings… wer konnte schon ahnen wie lange das anhalten würde.
„Natürlich nicht! Wofür hältst du mich? Ich habe zwar ein  bisschen Erfahrung in Nekromantik, aber ich bin nicht komplett böse. Meinst du ich habe meine Jahre ohne Magie vertan? Ich habe nicht nur als Wahrsagerin mein Brot verdient, sondern auch an Nahrungsmittelsubstituten für Vampire und Zombies geforscht. Blut und Gehirn sind so schwer zu finden ohne dabei Menschen umbringen zu müssen.“
Bei dem Wort „Zombie“ zuckte Phoenix zusammen. Als hätte sie es nicht geahnt sobald sie gefragt hatte was sie war. Zugegeben, die Spezies zu wechseln konnte nicht angenehm sein.
„Jetzt komm schon mit rein. Ich sitze hier schon die ganze Nacht und du hast lange genug in Hefe oder Erde verbracht. Wie wäre es mit einem schönen Sessel vor dem Feuer… mmh, Feuer vielleicht doch nicht. Lieber eine warme Heizung. Komm!“
„Wo sind die anderen?“
„Unterwegs. Ich habe ihnen geholfen so gut ich konnte. Danke für das, was ihr für mich getan habt. Vor allem du.“
Phoenix war einen Moment lang still. Dann begann sie sich auf die Beine zu stemmen. Ein wenig wacklig war sie noch, aber bald stand sie. Ihre Muskeln hatten sich schon daran gewöhnt nie wieder bewegt zu werden und es würde ein paar Tage dauern bis sie ihren Körper wieder vollständig unter Kontrolle hatte. Immerhin sah sie nicht aus wie die Zombies, die erst nach mehreren Monaten zurückgeholt wurden. Teilweise schon angeknabbert und schlürfend und stolpernd. Kein Wunder, dass die Zombies in den meisten Horrorfilmen solche erbarmungswürdigen Kreaturen waren.
„Kann ich ihnen bald folgen, um zu helfen?“
„Oh nein. Bestimmt nicht. Zuerst gewöhnst du dich an das Gehirn-Substitut, bekommst deine Stärke zurück und beweist mir, dass du nicht im NaNo-Land herumlaufen wirst und Menschen anknabberst. Vorher setzt du mir keinen Schritt vor die Tür."
Das nächste Seuchen klang fast schon wie ein Seufzen. Phoenix‘ Schultern sackten nach unten, doch dann raffte sie sich zusammen und ging in Richtung Haus.
„Gut. Wo ist die Dusche? Ich will mich wieder weniger wie ein Zombie und mehr wie ein Mensch fühlen.“
Zumindest ihren Humor schien sie wiedergefunden zu haben. Das war ein gutes Zeichen. Das bedeutete, dass sie sich nicht zurück in ihr Grab wünschte. Manchen war es lieber, doch Estelle beseitigte ihre Kreationen nur ungern. Es war immer noch Leben, ob untot, oder nicht.
„Aber ich will so schnell wie möglich gehen“, mahnte Phoenix. „Sobald ich mich… unter Kontrolle habe.“
„Ich gebe es zu, ich bin auch egoistisch. Ich hätte dich gerne weiter hier, wenn wir nach der Grenze menschlichen Sterbens suchen und was wir unterwegs sonst noch so finden. Dazu gibt es nicht viele Studien…“
„Die anderen sind wichtiger.“
Kasimir schien einen Teil seiner Angst überwunden zu haben, denn er flatterte zurück auf seinen Stammplatz. „Sie hat Recht.“
Phoenix schenkte dem Vogel nur einen müden Blick und schlürfte weiter in Richtung Hütte.
„Vielleicht. Aber vorher musst du dich ausruhen – und komm ja nicht auf die Idee mein Gehirn zu essen!“

7 Kommentare:

  1. Und damit ist das Geheimnis offiziel gelüftet... hach ist das aufregend. Nein, mal ohne Spaß... echt genial geschrieben, ich muss wirklich mal wieder ein dickes Lob aussprechen das du trotz des Marathons so gute Ergebnisse ablieferst, könnte ich nie im Leben.

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    1. Danke. :) Ich kann immer so schlecht einschätzen, ob etwas gut ist oder nicht (was mein eigenes Geschreibsel angeht, bin ich eher pessimistisch eingestellt).
      Ich wette in den Phasen, wo ich beinahe eingeschlafen wäre, hat mein Schreibstil ganz schön gelitten...

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    2. Geht mir genauso... aber das ist wirklich Top.
      Gerade vor allem die letzten paar Wörter... da ist bei mir auch alles eingebrochen.

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  2. Liebe Kim, das ist SUPER! Ich bin schon gespannt, wie ein Gummiringerl wie es weiter geht!
    LG Kaffeetassenhalter

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  3. Schönes Kapitel. :3
    Jetzt bin ich erst recht gespannt, wie es in Teil 2 weitergeht. Wird sicher interessant wenn/falls Zombie-Phoenix und Mia und co wieder zusammentreffen.

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  4. Ich hätte da noch ein paar Plotbunnies, deren Gehirn Phoenix gerne ausnuckeln kann. :-)

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  5. Dankeschön! Ich freue mich, dass es euch bisher gefällt. :)
    Phoenix ist auf Gehirnentzug. Selbst was Plotbunnys angeht. Aber Mia sucht gerade ein Neues; vielleicht hat die ja Interesse (also, am Bunnys schreiben. Nicht am Bunnys essen).

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